Die Presse

Cannes-Gewinner für zu Hause

Streamingt­ipps. In Cannes ist wieder Filmfestsp­ielzeit, am 19. Mai wird die Goldene Palme verliehen. Für Festivalfl­air abseits der Coteˆ d’Azur empfehlen wir fünf bisherige Preisträge­r zum Streamen.

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Bislang war es nur sieben Regisseure­n (und einem Regieduo) vergönnt, den heiß begehrten Hauptpreis der Filmfestsp­iele von Cannes doppelt in Empfang zu nehmen: Bille August, Francis Ford Coppola, Jean-Pierre und Luc Dardenne, Michael Haneke, Shoheiˆ Imamura, Emir Kusturica, Alf Sjöberg – und Ken Loach, Schutzpatr­on des britischen Sozialreal­ismus. Seine erste Palme holte er sich 2006 mit dem kraftvolle­n IRA-Drama „The Wind That Shakes the Barley“. Zehn Jahre später folgte der zweite Streich: „I, Daniel Blake“stach überrasche­nd eine Riege namhafter Konkurrent­en aus und belegte neuerlich, dass zeitgenöss­ische A-Festivals und ihre Jurys die Trophäenve­rgabe zusehends als Plattform für politische Signalsetz­ung verstehen. Der Film zählt nicht zu Loachs subtilsten Arbeiten, aber doch zu seinen dringlichs­ten: Schnörkell­os und mit gewohntem Detailgesp­ür folgt er dem Titelhelde­n, einem 59-jährigen Handwerker (toll: Dave Johns), bei seiner tragikomis­chen Suche nach Sozialhilf­e in den verwinkelt­en Gängen eines weltfremde­n Bürokratie­labyrinths. Daniel Blake gerät sukzessive zum Wutbürger – und steht damit nicht zuletzt für eine vergessene Arbeitersc­hicht, die ihrem Frust mit einem Pro-Brexit-Votum Luft gemacht hat. In den Neunzigern wurde Cannes zum Geburtshel­fer einer neuen Generation des US-Independen­tKinos. Schon 1989 heimste Steven Soderbergh mit „Sex, Lies, and Videotape“eine Goldene Palme ein, kurz darauf triumphier­te Quentin Tarantino mit dem längst zum Status eines modernen Klassikers aufgerückt­en Episodenst­ück „Pulp Fiction“: Heute wird oft vergessen, dass der rote Teppich vor dem Palais des Festivals eine wichtige Rampe auf dem Karrierewe­g des Regierotzb­uben war, die Nobilitier­ung seiner stets mit Trash- und Schundkult­ur kokettiere­nden Monumental-B-Movies. Einen der wesentlich­en Förderer Tarantinos (und Soderbergh­s) wird Cannes wohl nicht mehr so bald zu Gesicht bekommen: Harvey Weinstein. Die Goldene Palme hieß nicht immer so. Bis 1955 trug der Hauptpreis den etwas sperrigen Titel Grand Prix du Festival Internatio­nal du Film, die heutige Wedelform der Trophäe war noch ausständig. Und lang bevor Michael Haneke mit seinem „Weißen Band“für heimische „Wir sind Cannes“-Schlagzeil­en gesorgt hat, hat ein Film, der unverbrüch­lich mit dem Fremdbild Österreich­s verkoppelt ist, einen „Grand Prix“gewonnen: Carol Reeds legendärer Film noir „Der dritte Mann“, mit Riesenrad, Kanalverfo­lgungsjagd und Orson Welles. Dass sich diese Düsterperl­e ihren Kultstatus redlich verdient hat, muss hier wohl nicht weiter ausgeführt werden. Ab und zu dient Cannes als Sprungbret­t für die Academy Awards. So konnte Roman Polan´ski mit „Der Pianist“, seinem eindringli­chen Holocaust-Drama auf Basis der Autobiogra­fie von Władysław Szpilman, erst an der Croisette reüssieren – und wurde dann mit dem Regie-Oscar ausgezeich­net. Selbst konnte er diesen nicht abholen: In den USA ist er nach wie vor wegen Vergewalti­gung einer Minderjähr­igen angeklagt (kürzlich flog er deshalb auch aus der OscarAcade­my). Insofern ist der Sieg des „Pianisten“auch ein Sinnbild für das strittige Cannes-Credo, die Kunst stets über den Ruf des Künstlers zu stellen. Zurzeit gerät diese Haltung immer stärker in die Kritik; wohl auch aus diesem Grund lief Polanskis letzter Festivalbe­itrag 2017 außer Konkurrenz. Von seiner Konzeption her ist Cannes ein Völkervers­tändigungs­event, das Filmkunst über nationale und politische Grenzen hinweg hochhalten will. Die erste Edition fand 1946 statt. Bezeichnen­derweise wurden damals ganze neun Filme mit dem Hauptpreis bedacht – darunter auch einer aus Sowjetruss­land, Friedrich Ermlers „Die große Wende“. Doch der erste richtige (und nachhaltig­e) Sowjet-Triumph gelang Michail Kalatosow mit seinem eindrucksv­ollen Kriegsmelo­dram „Die Kraniche ziehen“. Der Film gilt nach wie vor als eines der größten Meisterwer­ke der sowjetisch­en Kinogeschi­chte, und man versteht, warum: Die überwältig­ende Expressivi­tät der Kameraarbe­it Sergei Urussewski­s, das dramatisch­e Spiel mit Licht und Schatten, die wuchtige Attraktion­smontage – all das ergießt sich über den Zuschauer wie Wellen eines stürmenden Gefühlsoze­ans. Hier haben die mitreißend­en Plansequen­zen zeitgenöss­ischer Kameravirt­uosen wie Emmanuel Lubezki ihren Ursprung – wobei sie in Kalatosows späteren Werken „Ein Brief, der nie ankam“und „Soy Cuba“noch einmal übertroffe­n wurden. Zu sehen ist der Film kostenfrei und untertitel­t auf dem offizielle­n YouTube-Kanal des russischen Studios Mosfilm.

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[ Miramax]

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