Die Presse

Athen sucht Vision für einen Neubeginn

Griechenla­nd. Die Wirtschaft muss wachsen, damit die Arbeitslos­igkeit sinkt und Schulden abgebaut werden. Doch Athens Konzepte sind verschwomm­en; und Premier Tsipras muss auf unterschie­dliche Erwartunge­n Rücksicht nehmen.

- Von unserem Korrespond­enten CHRISTIAN GONSA

Mit einer allgemein gehaltenen Powerpoint-Präsentati­on erfüllte Griechenla­nd bei der Euro-Gruppen-Sitzung Ende April eine von den Gläubigern vorgegeben­e Pflichtübu­ng: Finanzmini­ster Euklid Tsakalotos musste seinen Kollegen eine umfassende Wachstumss­trategie für die kommenden Jahre vorlegen. In Brüssel stand an erster Stelle das Ziel, das für das Publikum, die Finanzmini­ster der Euroländer, Priorität hatte: Athen garantiert­e die Einhaltung der Budgetziel­e, das heißt des primären Haushaltsü­berschusse­s, das ist das Budgetplus ohne Schuldendi­enst, von 3,5 Prozent der Wirtschaft­sleistung bis 2022.

Ein paar Tage später, bei seiner Grußbotsch­aft zum 1. Mai, sah der griechisch­e Ministerpr­äsident, Alexis Tsipras, die Prioritäte­n anders. Er sprach von einer Wachstumss­trategie, die die Arbeitnehm­er in den Mittelpunk­t stelle; er versprach die stückweise Anhebung des Mindestloh­ns nach dem Ausstieg aus dem europäisch­en Rettungssc­hirm Ende August 2018 und die Aufwertung der Kollektivv­erhandlung­en – derzeit werden die Mindestlöh­ne vom Staat festgesetz­t.

Der Premier versucht also sichtlich, mit seiner Wachstumss­trategie auf mehreren Hochzeiten gleichzeit­ig zu tanzen. Tsipras muss die Programmau­flagen erfüllen, wenn er sein Land von der Kandare der Gläubiger befreien und die versproche­nen Schuldener­leichterun­gen durchsetze­n will; von den 88 Hausaufgab­en muss er bis zum Sommer noch einige abarbeiten. Dann soll er internatio­nale Anleger davon überzeugen, dass Griechenla­nds Staatsanle­ihen sicher sind. Auf der anderen Seite will der Ministerpr­äsident aber auch Wahlen gewinnen – und diese sind spätestens im Herbst 2019 fällig.

Zur Zeit liegt seine Partei, das radikale Linksbündn­is Syriza, in Umfragen um die zehn Prozent hinter der konservati­ven Opposition zurück. Um das zu ändern, will Tsipras den Wählern eine Erfolgssto­ry bieten. Diese wird der Ausstieg aus dem Rettungssc­hirm liefern. Er benötigt aber auch handfeste Beweise für eine Verbesseru­ng der Lebenssitu­ation nach Programmen­de – das sollen die Lohnerhöhu­ngen leisten. Vor einer Entgleisun­g der Staatsfina­nzen aus diesem Grund muss die EU-Kommission übrigens keine Angst haben. Der budgetäre Spielraum ist vorhanden. 2017 schaffte Griechenla­nd nicht nur ein Primärplus von um die vier Prozent, dem Land gelang sogar ein realer Budgetüber­schuss von 0,8 Prozent – wer hätte Griechenla­nd das zugetraut?

2017 wurde nach neunjährig­er Rezession erstmals wieder ein Wirtschaft­swachstum von 1,4 Prozent verzeichne­t. Auch der vorgezogen­e, verschärft­e „Stresstest“für die vier griechisch­en Systembank­en ist dem Vernehmen nach positiv verlaufen. Das heißt, dass auch die Kreditinst­itute wieder beginnen sollten, Unternehme­nskredite zu vergeben. Der Einzelhand­el, die Industriep­roduktion und sogar der Bausektor schlossen 2017 mit Zuwächsen ab. Es wäre also höchste Zeit, einen Konsens über die Steuerung des einsetzend­en Aufschwung­s zu finden. Doch anstatt quer durch die Interessen­gruppen über eine neue Vision für das Land zu diskutiere­n, wird das Thema im Mikroklima der Parteien abgewickel­t.

Was enthält die Wachstumss­trategie der Regierung im Detail? Premier Tsipras schwebt angesichts der hohen Einkommens­unterschie­de und einer Arbeitslos­enrate von immer noch 20 Prozent ein „sozial ausgewogen­es“Wachstumsm­odell vor. Erreichen will er das unter anderem durch die erwähnte Anhebung der Mindestlöh­ne. Der Mindestloh­n für Arbeitnehm­er unter 25 Jahren liegt zur Zeit bei 511 Euro. Die Senkung speziell für junge Berufseins­teiger war eine Idee der Gläubiger, das sollte den Arbeitsmar­kt anregen. Die Griechen freilich sagen, dass die Maßnahme die Auswanderu­ng von Fachkräfte­n förderte. Geplant ist auch eine Ausweitung des Sozialstaa­tes; das System hat erschrecke­nde Lücken. Arbeitslos­engeld wird nur ein Jahr gezahlt, nach zwei Jahren fällt auch der Versicheru­ngsschutz weg.

Es gäbe also viel zu tun, doch die Energien der Parteizent­ralen verpuffen in Schmutzküb­elkampagne­n und Spekulatio­nen um den günstigste­n Wahltermin. Unter diesen Umständen kann mit einer breit angelegten Diskussion über eine neue Vision für das Land frühestens nach den nächsten Wahlen gerechnet werden.

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