Athen sucht Vision für einen Neubeginn
Griechenland. Die Wirtschaft muss wachsen, damit die Arbeitslosigkeit sinkt und Schulden abgebaut werden. Doch Athens Konzepte sind verschwommen; und Premier Tsipras muss auf unterschiedliche Erwartungen Rücksicht nehmen.
Mit einer allgemein gehaltenen Powerpoint-Präsentation erfüllte Griechenland bei der Euro-Gruppen-Sitzung Ende April eine von den Gläubigern vorgegebene Pflichtübung: Finanzminister Euklid Tsakalotos musste seinen Kollegen eine umfassende Wachstumsstrategie für die kommenden Jahre vorlegen. In Brüssel stand an erster Stelle das Ziel, das für das Publikum, die Finanzminister der Euroländer, Priorität hatte: Athen garantierte die Einhaltung der Budgetziele, das heißt des primären Haushaltsüberschusses, das ist das Budgetplus ohne Schuldendienst, von 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung bis 2022.
Ein paar Tage später, bei seiner Grußbotschaft zum 1. Mai, sah der griechische Ministerpräsident, Alexis Tsipras, die Prioritäten anders. Er sprach von einer Wachstumsstrategie, die die Arbeitnehmer in den Mittelpunkt stelle; er versprach die stückweise Anhebung des Mindestlohns nach dem Ausstieg aus dem europäischen Rettungsschirm Ende August 2018 und die Aufwertung der Kollektivverhandlungen – derzeit werden die Mindestlöhne vom Staat festgesetzt.
Der Premier versucht also sichtlich, mit seiner Wachstumsstrategie auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Tsipras muss die Programmauflagen erfüllen, wenn er sein Land von der Kandare der Gläubiger befreien und die versprochenen Schuldenerleichterungen durchsetzen will; von den 88 Hausaufgaben muss er bis zum Sommer noch einige abarbeiten. Dann soll er internationale Anleger davon überzeugen, dass Griechenlands Staatsanleihen sicher sind. Auf der anderen Seite will der Ministerpräsident aber auch Wahlen gewinnen – und diese sind spätestens im Herbst 2019 fällig.
Zur Zeit liegt seine Partei, das radikale Linksbündnis Syriza, in Umfragen um die zehn Prozent hinter der konservativen Opposition zurück. Um das zu ändern, will Tsipras den Wählern eine Erfolgsstory bieten. Diese wird der Ausstieg aus dem Rettungsschirm liefern. Er benötigt aber auch handfeste Beweise für eine Verbesserung der Lebenssituation nach Programmende – das sollen die Lohnerhöhungen leisten. Vor einer Entgleisung der Staatsfinanzen aus diesem Grund muss die EU-Kommission übrigens keine Angst haben. Der budgetäre Spielraum ist vorhanden. 2017 schaffte Griechenland nicht nur ein Primärplus von um die vier Prozent, dem Land gelang sogar ein realer Budgetüberschuss von 0,8 Prozent – wer hätte Griechenland das zugetraut?
2017 wurde nach neunjähriger Rezession erstmals wieder ein Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent verzeichnet. Auch der vorgezogene, verschärfte „Stresstest“für die vier griechischen Systembanken ist dem Vernehmen nach positiv verlaufen. Das heißt, dass auch die Kreditinstitute wieder beginnen sollten, Unternehmenskredite zu vergeben. Der Einzelhandel, die Industrieproduktion und sogar der Bausektor schlossen 2017 mit Zuwächsen ab. Es wäre also höchste Zeit, einen Konsens über die Steuerung des einsetzenden Aufschwungs zu finden. Doch anstatt quer durch die Interessengruppen über eine neue Vision für das Land zu diskutieren, wird das Thema im Mikroklima der Parteien abgewickelt.
Was enthält die Wachstumsstrategie der Regierung im Detail? Premier Tsipras schwebt angesichts der hohen Einkommensunterschiede und einer Arbeitslosenrate von immer noch 20 Prozent ein „sozial ausgewogenes“Wachstumsmodell vor. Erreichen will er das unter anderem durch die erwähnte Anhebung der Mindestlöhne. Der Mindestlohn für Arbeitnehmer unter 25 Jahren liegt zur Zeit bei 511 Euro. Die Senkung speziell für junge Berufseinsteiger war eine Idee der Gläubiger, das sollte den Arbeitsmarkt anregen. Die Griechen freilich sagen, dass die Maßnahme die Auswanderung von Fachkräften förderte. Geplant ist auch eine Ausweitung des Sozialstaates; das System hat erschreckende Lücken. Arbeitslosengeld wird nur ein Jahr gezahlt, nach zwei Jahren fällt auch der Versicherungsschutz weg.
Es gäbe also viel zu tun, doch die Energien der Parteizentralen verpuffen in Schmutzkübelkampagnen und Spekulationen um den günstigsten Wahltermin. Unter diesen Umständen kann mit einer breit angelegten Diskussion über eine neue Vision für das Land frühestens nach den nächsten Wahlen gerechnet werden.