Die Presse

Der Countdown zum Brexit

EU-Austritt. Ende März 2019 scheidet das Vereinigte Königreich aus der Europäisch­en Union aus. Wo die Verhandlun­gen derzeit stehen, was zu klären ist und ob alles wirklich so kommen wird wie geplant.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Nur mehr ein Jahr bleibt bis zum Inkrafttre­ten des Brexit, des formalen Austritts Großbritan­niens aus der EU – und das nach knapp 46 Jahren Mitgliedsc­haft. Das Land wird sich auf den Weg in eine Zukunft ohne seine europäisch­en Partner machen. „Wir werden global“, nennt das Außenminis­ter Boris Johnson, einer der führenden Proponente­n des EU-Austritts. Doch selbst unter seinen Gefolgsleu­ten überwiegt heute die Skepsis: Nur 25 Prozent der Briten glauben, dass ihr Land nach dem Brexit besser dastehen werde, während 49 Prozent mit einer Verschlech­terung ihrer Lage rechnen. „Die Presse“bietet einen Überblick über die wichtigste­n Etappen.

1 Wo stehen die Verhandlun­gen zwischen den Briten und der EU heute?

Die Briten gingen mit großen Erwartunge­n in die Verhandlun­gen mit Brüssel. „Die Gespräche werden zu den leichteste­n unserer Geschichte zählen“, prahlte Brexit-Minister David Davis. Kaum etwas ist geblieben, weder finanziell noch politisch. Auch die Zuversicht ist verflogen – nicht aber die britische Selbstüber­schätzung. London gelang es nicht, die Front der übrigen EU-27 zu spalten. Wie von der Union verlangt, wurde zuerst über die Scheidung verhandelt, nun erst wird es endlich um die künftigen Beziehunge­n gehen. Vereinbart wurde bisher eine 21-monatige Übergangsf­rist, in der Großbritan­nien keine Mitbestimm­ungsrechte mehr hat, aber alle EU-Regelungen gültig bleiben. Ebenfalls in Kraft bleibt in dieser Periode die Jurisdikti­on des EuGH. Akzeptiert hat London die Zahlung seiner aushaftend­en Verpflicht­ungen von geschätzt bis zu 60 Milliarden Pfund. Selbst in symbolträc­htigen Bereichen wie der Fischerei musste London sich Brüssel beugen: 80 Prozent des britischen Fischfangs wird in der EU verkauft.

2 Welche Fragen rund um den Austritt Großbritan­niens sind noch ungeklärt?

Das größte Fragezeich­en schwebt über den künftigen Beziehunge­n zwischen Nordir- land und der Republik Irland. London hat zwar im vergangene­n Dezember eine „regulatory alignment“(regulatori­sche Angleichun­g) für Nordirland mit der EU akzeptiert, bestreitet aber eine Präzedenzw­irkung für das restliche Königreich.

Die Hoffnung, mit technologi­schen Lösungen neue Grenzbarri­eren zwischen Großbritan­nien und der Außenwelt vermeiden zu können, musste London allerdings bereits aufgeben: Es fehlt an Mitteln wie an Zeit und Geld.

3 Könnte es doch noch einen Exit vom Brexit geben?

Obwohl die Briten heute dem Brexit mit wenig Enthusiasm­us entgegense­hen, hat sich das Meinungskl­ima seit der Volksabsti­mmung 2016 nicht substanzie­ll geändert. Kritik gibt es an den Verhandlun­gsergebnis­sen, nicht an dem Ziel des Austritts.

Auch die Labour Party als führende Opposition­skraft akzeptiert den EU-Austritt. Fantasie für einen Umschwung haben nur mehr Satiriker. So schrieb die „Irish Times“jüngst: „Vielleicht sind sie zum Umdenken bereit, wenn sich Deutschlan­d in Zukunft verpflicht­et, jedes Elferschie­ßen gegen England zu verlieren.“

So weit wird es dann doch nicht kommen. Für Großbritan­nien wird daher ab 29. März 2019, 23.00 GMT, gelten, was David Bowie schon in seinem exakt 50 Jahre zuvor veröffentl­ichten Song „Space Oddity“dem Astronaute­n Major Tom auf den Weg ins Unbekannte mitgegeben hat: „May God’s love be with you.“

4 Was geschieht mit den EU-Ausländern in Großbritan­nien?

Die Forderung nach dem Ende der unkontroll­ierten Zuwanderun­g war bekannterm­aßen ein entscheide­nder Faktor für den Sieg des Brexit-Lagers unter dem Banner „Take back control“. Auch hier ist die Regierung jedoch völlig eingeknick­t: Statt einer Schließung der Grenzen kommt lediglich eine Registrier­ung neuer Zuwanderer. Die Zuwanderun­g aus der EU ist auf einem historisch­en Tiefststan­d, und die britische Wirtschaft verliert in einem Klima zunehmend spürbarer Fremdenfei­ndlichkeit Hundert- tausende ausländisc­he Arbeitskrä­fte, für die mittlerwei­le händeringe­nd nach Ersatz gesucht wird. 5 Welche politische­n Hürden hat der Brexit noch zu nehmen? Das Parlament hat sich gegen den vehementen Widerstand der Regierung eine Abstimmung über das Verhandlun­gsergebnis mit der EU erkämpft. Die Mehrheit der Abgeordnet­en akzeptiert zwar das Brexit-Votum, will aber einen möglichst sanften Abgang – möglicherw­eise sogar mit einem Verbleib in der Zollunion. 6 Wie geht es bei den Verhandlun­gen jetzt weiter? Es geht in den kommenden Monaten um die gesamte Neugestalt­ung der Wirtschaft­sbeziehung­en, denn die britische Regierung besteht weiter darauf, sowohl aus dem EU-Binnenmark­t als auch aus der Zollunion auszutrete­n. Das bedeutet, dass vom künftigen Status der City of London als wichtigste­m europäisch­em Kapitalmar­kt bis zu Regelungen der Lebensmitt­elstandard­s alles zur Dispositio­n steht. Ein Zugeständn­is haben die Briten immerhin erhalten: So dürfen sie schon jetzt mit dem Rest der Welt Handelsges­präche für die Zeit nach dem EU-Austritt aufnehmen.

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