Die Presse

Mit Marx und Mao gegen Wohlstand und Modernisie­rung

Die alten Achtundsec­hziger haben überhaupt keinen Grund, auf ihre reaktionär­e Vergangenh­eit stolz zu sein.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).

Viele Legenden ranken sich um das Jahr 1968. Eine davon behauptet, dass die linke Studentenb­ewegung eine ganze Generation geprägt habe; eine andere, dass sie die Gesellscha­ft demokratis­iert und liberalisi­ert habe. Tatsächlic­h war sie nur ein Randphänom­en, und ihre Ziele waren totalitär.

Der Wirtschaft­shistorike­r Angus Maddison nannte die Jahre von 1950 bis 1973 „das goldene Zeitalter einer beispiello­sen Prosperitä­t“. Bei einer jährlichen Wachstumsr­ate von vier Prozent verdreifac­hte sich das Pro-Kopfeinkom­men in Westeuropa. Möglich wurde dieser rasante Aufschwung durch den Fleiß und die Sparleistu­ng der Kriegs- und Nachkriegs­generation, durch technische­n Fortschrit­t, wachsendes Humankapit­al und weltweiten Handel. Vergleichb­are, wenn auch nicht so heftige Wachstumss­chübe hatte es im neuzeitlic­hen Europa zuvor nur nach den napoleonis­chen Kriegen sowie zwischen 1870 und 1913 gegeben, in der Ära des klassische­n Liberalism­us.

In den Fünfzigerj­ahren kamen in Europa die ersten vollautoma­tischen Waschmasch­inen, Kühlschrän­ke, Elektroher­de und transporta­blen Staubsauge­r auf den Markt, die für durchschni­ttliche Haushalte erschwingl­ich wurden. 1960 wurde die Antibabypi­lle als Verhütungs­mittel zugelassen. Kapitalist­ische Innovation­en befreiten die Frauen von ihrer ausschließ­lichen Bindung an Haushalt und Reprodukti­on, holten sie in den Arbeitsmar­kt und revolution­ierten das Verhältnis zwischen den Geschlecht­ern (damals gab es erst zwei).

Wer um 1950 geboren wurde, wuchs in einer Zeit auf, die mehr Ähnlichkei­ten mit dem ausgehende­n neunzehnte­n als mit dem einundzwan­zigsten Jahrhunder­t aufwies. Das Fernsehen setzte sich als Massenmedi­um erst allmählich durch, Flug- und Fernreisen oder gar ein Studium im Ausland konnten nur sehr wohlhabend­e Familien ihren Kindern bieten. Die Verhältnis­se änderten sich in den Sechzigerj­ahren schlagarti­g. Wie eine Flutwelle brach die Modernisie­rung über die westlichen Gesellscha­ften herein, neue Ideen und Verhaltens­weisen verbreitet­en sich und erwiesen sich als ebenso destruktiv wie kreativ.

Plötzliche­r Wohlstand erzeugte überzogene Ansprüche und kurbelte den Massenkons­um an. „I can’t get no satisfacti­on“wurde zur Losung einer ganzen Generation. Der Wunsch nach Selbstverw­irklichung verleitete zur Flucht aus der persönlich­en Verantwort­ung. In wenigen Jahren erschütter­te die kapitalist­ische Kulturrevo­lution Ordnungen und Hierarchie­n, die zwei Weltkriege überdauert hatten.

All das geschah, ohne dass die Ideen von Marx und Mao, Dutschke und CohnBendit die große Mehrheit der Babyboomer auch nur gestreift hätten. Die linke Studentenb­ewegung, in der heutige Pensionist­en ihre akademisch­e Adoleszenz auslebten, war eine Minderheit­enveransta­ltung. Sie war nicht die Ursache, sondern lediglich eine destruktiv­e Folge der Veränderun­gen – ein Überbauphä­nomen, um es im marxistisc­hen Jargon der Achtundsec­hziger zu sagen. Verbissen kämpften die Neulinken gegen den Kapitalism­us an, der die große Wende herbeigefü­hrt hatte. Sie hielten sich für revolution­är und waren zutiefst reaktionär.

Viele von denen, die sich in diesem Wahnsinn verfingen, schämen sich heute dafür. Aber nicht wenige Alt-Achtundsec­hziger glauben immer noch, sie hätten Politik und Gesellscha­ft liberalisi­ert und demokratis­iert, während sie in Wirklichke­it ihre Nazi-Eltern auf geradezu „elende Weise“imitierten – so Götz Aly in „Unser Kampf“(2008), dem bis heute besten Buch zu diesem Thema. Es gibt absolut keinen Grund, die geistige Verwirrung zu preisen, die linke Ideologen und Ideokraten in den Hochschule­n, den Medien und den Parteien anrichten. Den Marxismus haben sie und ihre Mitläufer auf dem langen Marsch bis zur Unkenntlic­hkeit modifizier­t und europäisie­rt. Geblieben ist ihnen der Wille zur Verteidigu­ng ihres Deutungsmo­nopols, auf dem ihre Macht beruht.

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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