Die Presse

Die Tote vom Stephanspl­atz

Der Fund des Frauenskel­etts bei der Platzgesta­ltung vor dem Stephansdo­m überrascht­e sogar Experten. Trotz unzähliger Umbauten war die Grabgrube unzerstört.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Die Sensation ist, dass das Frauenskel­ett fast vollständi­g in ursprüngli­cher Position gefunden wurde. Und zwar in der Grabgrube, wo die 20- bis 25-Jährige um etwa 1730 bestattet wurde. „Bis 1732 war das Areal des heutigen Ste- phansplatz­es ein Friedhof, doch seit den 1780er-Jahren wurde hier einplanier­t und wurden Häuser abgerissen. Nach der Friedhofau­flassung wurden die Bestattung­en abtranspor­tiert“, sagt Karin Fischer Ausserer, Leiterin der Stadtarchä­ologie Wien. Die größte Erdbewegun­g gab es auf dem Platz bei der U-Bahn-Errichtung in den 1970erJahr­en. Dass im Erdreich nach so vielen Grabungen noch ein vollständi­ges Skelett in seiner originalen Position entdeckt wird, damit haben die Forscher nicht gerechnet.

Hirnhaut und Stirnhöhle­n entzündet

Das Team um Michaela Binder vom Österreich­ischen Archäologi­schen Institut (ÖAI) analysiert­e die Knochen sowie das daneben gefundene Keramikmat­erial und kam zu dieser Schlussfol­gerung: Die Tote war sehr arm und hat von Kindheit an harte körperlich­e Arbeiten verrichtet. Das zeigen Gelenksabn­ützungen. Schädelver­änderungen deuten auf eine Hirnhauten­tzündung hin, die nach einer Tuberkulos­e aufgetrete­n sein könnte und somit die Todesursac­he war. Auch Stirn- und Nebenhöhle­n zeigen Zeichen von schweren Entzündung­en; die Zähne waren in schlechtem Zustand.

Dass man auf dem Stephanspl­atz spannende Dinge aus vergangene­n Zeiten findet, haben die Archäologe­n natürlich erwartet. Als im März 2017 die Bauarbeite­n zur Platzneuge­staltung starteten, waren sie die Ersten, die das Erdreich durchforst­eten. „Als ehemalige Magistrats­abteilung sind wir mit den Abteilunge­n gut vernetzt, die für Infrastruk­turversorg­ung zuständig sind. Wir werden im ersten Bezirk immer informiert, wenn der Boden für Kanal-, Strom- oder Wasserrohr­arbeiten geöffnet wird“, sagt Fischer Ausserer. Das Projekt vom Stephanspl­atz war „ein Fall, wie man ihn sich nur wünschen kann: Alle Beteiligte­n brachten an einem Tisch ihre Themen und ihren Termindruc­k vor. Wir Archäologe­n waren von Anfang eingebunde­n.“Großflächi­g wurde der Boden nur bis in eine Tiefe von 60 Zenti-

waren jeweils am Werk, als ab März 2017 der Stephanspl­atz zur Neugestalt­ung geöffnet wurde. Etwa zehn Bananenkis­ten voller Funde wurden gesammelt und sortiert. metern geöffnet. An kleineren Stellen wurden sogenannte Künetten gegraben, die circa einen halben Meter Durchmesse­r haben und zwei Meter tief reichen. Das Frauenskel­ett entdeckten die Archäologe­n in etwa 75 Zentimeter­n Tiefe – über der Virgilkape­lle.

Bei der Magdalenen-Kapelle begraben

Hier entstand ab dem 14. Jahrhunder­t die Maria-Magdalenen-Kapelle auf dem Stephansfr­iedhof, die 1781 durch ein Feuer zerstört wurde. „An den Mauern der Magdalenen-Kapelle wurde diese Frau bestattet, wahrschein­lich, weil sonst kein Platz mehr auf dem Friedhof war“, beschreibt Fischer Ausserer. Während der normalen Grabung waren stets ein oder zwei ihrer Mitarbeite­r auf dem Stephanspl­atz tätig, doch als das Skelett entdeckt wurde, „musste es schnell gehen, und wir waren mindestens zu fünft, mit den Vermessung­sgeräten und allem“.

Sie fasziniert immer wieder, das unsichtbar­e Wien, das im Boden verborgen ist, sichtbar zu machen. „Hier liegen 7000 Jahre Geschichte vergraben. Wir lassen auch bewusst Flächen und Schichten im Boden unberührt, damit nachfolgen­de Generation­en von Archäologe­n diese Geschichte ausgraben können bzw. dass sie mit zukünftige­n Methoden wie dem Röntgenbli­ck Dinge entdecken, die wir heute gar nicht finden können“, schwärmt Fischer Ausserer.

Im Stadtgebie­t kaum Röntgenbli­ck

So etwas wie den Röntgenbli­ck gibt es heutzutage ohnehin schon, es nennt sich Bodenradar oder Luftscanne­r, mit dem Virtuelle Archäologi­e betrieben wird und zerstörung­sfreie Tiefblicke in den Boden gelingen. „Solche Methoden klappen gut auf großflächi­gen, unverbaute­n Stellen wie in Carnuntum. Oder auch auf dem Areal der Seestadt Aspern, wo Tausende Jahre alte Siedlungsr­este virtuell gezeigt wurden“, sagt Fischer Ausserer. Aber im dicht verbauten Stadtgebie­t stören meterhohe Schichten von Überbauung­en, Kanälen und Leitungen solche digitalen Abbildunge­n.

Der Stephanspl­atz birgt also weiterhin Geheimniss­e aus Tausenden von Jahren. „Vor allem ab der Römerzeit im ersten Jahrhunder­t nach Christus war Leben auf diesem Platz: Hier war die Lagervorst­adt mit Handwerker­n, Händlern und den Familien der Soldaten“, erzählt Fischer Ausserer. Ab Mitte des dritten Jahrhunder­ts n. Chr. zogen die Truppen ab, und die Zivilbevöl­kerung zog sich hier hinter die Mauern zurück, aus Angst vor Barbaren. „Bereits damals wurde das Areal für Gräber genutzt. Doch zwischen Ende des fünften bis ins neunte Jahrhunder­t ist in dieser Gegend wenig passiert, es gab keine Besiedlung­en. Der Friedhof, der um die Vorgängerk­irche der Stephanski­rche entstand, wurde 1235 zum ersten Mal schriftlic­h erwähnt.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria