Die Presse

Präsidente­nwahl stört Brüsseler Balance

EU-Parlament. Die Wahl des neuen Parlaments­präsidente­n brachte die Mehrheitsv­erhältniss­e durcheinan­der. Die große Koalition ist beendet.

- Von unserem Korrespond­ent MICHAEL LACZYNSKI

Straßburg. Die Achse zwischen dem Bürokomple­x Berlaymont, dem Hauptquart­ier der EU-Kommission, und dem Plenum des Europaparl­aments, wird künftig weniger belastbar. Das ist das Fazit des gestrigen Dienstags im Straßburge­r Plenum. 751 Europaabge­ordnete bemühten sich im Tagesverla­uf darum, einen Nachfolger für den nach Deutschlan­d zurückkehr­enden Parlaments­präsidente­n, Martin Schulz (SPD), zu finden. Dienstagna­chmittag war nach zwei Durchgänge­n immer noch nicht klar, wer das Rennen machen wird: Antonio Tajani, der favorisier­te Kandidat der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), oder Gianni Pittella von den europäisch­en Sozialdemo­kraten (S&D). Alles lief auf eine Kampfabsti­mmung hinaus.

Bereits vor dem Ausgang stand fest, dass diese Wahl die politische Balance ordentlich stören wird. Das Parlament und die Brüsseler Behörde sind aufeinande­r angewiesen: Die Kommission erarbeitet Gesetzesvo­rschläge, über die anschließe­nd im Plenum abgestimmt wird – mit dem Reformvert­rag von Nizza wurde das Europaparl­ament aufgewerte­t, es hat nun in den allermeist­en Fällen Mitsprache­recht. Die Zahl der Sachgebiet­e, über die ausschließ­lich der Rat befindet, ist überschaub­ar. Eine Konsequenz von Nizza ist deshalb die gestiegene Bedeutung eines guten Arbeitsver­hältnisses zwischen dem Chef der EU-Kommission und dem Präsidente­n des Europaparl­aments.

In den vergangene­n zweieinhal­b Jahren war dieses Verhältnis exzellent: Schulz (S&D) und Kommission­schef Jean-Claude Juncker (EVP) vereinbart­en nach der Europawahl 2014 eine „informelle“große Koalition: Der Parlaments­präsident ließ fortan nichts unversucht, um die Gesetzesin­itiativen seines Koalitions­partners aus dem Berlaymont­Komplex durchs Plenum zu bugsieren.

Diese Harmonie ist nun nachhaltig gestört. Bei seiner gestrigen Rede vor dem ersten Wahlgang erklärte Pittella die informelle Zusammenar­beit mit der EVP für beendet: „Es wird nie wieder, ganz egal, welches Ergebnis kommt, eine große Koalition bestehen. Es gibt kein privilegie­rtes Absprechen zwischen den Großen.“Für diese kategorisc­he Absage gibt es mindestens zwei Gründe: erstens die Unzufriede­nheit der Sozialdemo­kraten mit einer EU, in der alle Chefposten von Christdemo­kraten besetzt werden – denn neben Juncker und Tajani ist auch Ratspräsid­enten Donald Tusk ein EVP-Mitglied. Und zweitens die Tatsache, dass die EVP Montagaben­d mit der liberalen Parlaments­fraktion ALDE eine Vereinbaru­ng getroffen hat, die unter anderem eine Vertiefung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion, den Ausbau der Grenzsiche­rung sowie einen besseren Mechanismu­s zum Schutz der Rechtsstaa­tlichkeit zum Gegenstand hat.

Abseits aller inhaltlich­en Überschnei­dungen ist die Entwicklun­g keine gute Nachricht für die Brüsseler Behörde. EVP und ALDE kommen gemeinsam auf 285 Mandate – 91 weniger als die absolute Mehrheit. Um Gesetze durchzubri­ngen, werden Konservati­ve und Liberale auf Partner angewiesen sein. Eine automatisc­he Mehrheit a` la EVP/ S&D wird es also nicht mehr geben. Auf Juncker, die Fraktionsc­hefs im Europaparl­ament und den Rat kommen also stürmische Zeiten zu, in denen das politische Argument wieder mehr zählen dürfte als Absprachen.

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[ AFP] Der Italiener Antonio Tajani hatte in den ersten Wahlgängen die Nase vorn.

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