Präsidentenwahl stört Brüsseler Balance
EU-Parlament. Die Wahl des neuen Parlamentspräsidenten brachte die Mehrheitsverhältnisse durcheinander. Die große Koalition ist beendet.
Straßburg. Die Achse zwischen dem Bürokomplex Berlaymont, dem Hauptquartier der EU-Kommission, und dem Plenum des Europaparlaments, wird künftig weniger belastbar. Das ist das Fazit des gestrigen Dienstags im Straßburger Plenum. 751 Europaabgeordnete bemühten sich im Tagesverlauf darum, einen Nachfolger für den nach Deutschland zurückkehrenden Parlamentspräsidenten, Martin Schulz (SPD), zu finden. Dienstagnachmittag war nach zwei Durchgängen immer noch nicht klar, wer das Rennen machen wird: Antonio Tajani, der favorisierte Kandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), oder Gianni Pittella von den europäischen Sozialdemokraten (S&D). Alles lief auf eine Kampfabstimmung hinaus.
Bereits vor dem Ausgang stand fest, dass diese Wahl die politische Balance ordentlich stören wird. Das Parlament und die Brüsseler Behörde sind aufeinander angewiesen: Die Kommission erarbeitet Gesetzesvorschläge, über die anschließend im Plenum abgestimmt wird – mit dem Reformvertrag von Nizza wurde das Europaparlament aufgewertet, es hat nun in den allermeisten Fällen Mitspracherecht. Die Zahl der Sachgebiete, über die ausschließlich der Rat befindet, ist überschaubar. Eine Konsequenz von Nizza ist deshalb die gestiegene Bedeutung eines guten Arbeitsverhältnisses zwischen dem Chef der EU-Kommission und dem Präsidenten des Europaparlaments.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren war dieses Verhältnis exzellent: Schulz (S&D) und Kommissionschef Jean-Claude Juncker (EVP) vereinbarten nach der Europawahl 2014 eine „informelle“große Koalition: Der Parlamentspräsident ließ fortan nichts unversucht, um die Gesetzesinitiativen seines Koalitionspartners aus dem BerlaymontKomplex durchs Plenum zu bugsieren.
Diese Harmonie ist nun nachhaltig gestört. Bei seiner gestrigen Rede vor dem ersten Wahlgang erklärte Pittella die informelle Zusammenarbeit mit der EVP für beendet: „Es wird nie wieder, ganz egal, welches Ergebnis kommt, eine große Koalition bestehen. Es gibt kein privilegiertes Absprechen zwischen den Großen.“Für diese kategorische Absage gibt es mindestens zwei Gründe: erstens die Unzufriedenheit der Sozialdemokraten mit einer EU, in der alle Chefposten von Christdemokraten besetzt werden – denn neben Juncker und Tajani ist auch Ratspräsidenten Donald Tusk ein EVP-Mitglied. Und zweitens die Tatsache, dass die EVP Montagabend mit der liberalen Parlamentsfraktion ALDE eine Vereinbarung getroffen hat, die unter anderem eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, den Ausbau der Grenzsicherung sowie einen besseren Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit zum Gegenstand hat.
Abseits aller inhaltlichen Überschneidungen ist die Entwicklung keine gute Nachricht für die Brüsseler Behörde. EVP und ALDE kommen gemeinsam auf 285 Mandate – 91 weniger als die absolute Mehrheit. Um Gesetze durchzubringen, werden Konservative und Liberale auf Partner angewiesen sein. Eine automatische Mehrheit a` la EVP/ S&D wird es also nicht mehr geben. Auf Juncker, die Fraktionschefs im Europaparlament und den Rat kommen also stürmische Zeiten zu, in denen das politische Argument wieder mehr zählen dürfte als Absprachen.