Die Presse

Die Stunde der verbalen Kraftmeier

Im Streit mit der Türkei ist die EU wirtschaft­lich in der besseren Position.

- Josef.urschitz@diepresse.com

I m Zuge der zunehmende­n Vereisung der Beziehunge­n zwischen Europa und der Türkei ist jetzt die Stunde der verbalen Kraftmeier­ei angebroche­n. Jede zweite unverschäm­te Forderung aus Ankara ist mit dem Unterton belegt, Europa brauche die Türkei schließlic­h mehr als umgekehrt. „Wir sitzen an dem längeren Hebel“, tönt es dagegen beispielsw­eise vom Wiener Ballhauspl­atz.

Was jetzt? Also wirtschaft­lich gesehen ist die Lage eindeutig: Wir vergleiche­n hier einen Wirtschaft­sraum, der zugegebene­rmaßen ein paar Probleme mit Wachstum und Arbeitsmar­kt hat, mit einem Land, das von Standard & Poor’s soeben auf Ramschstat­us, eine Art Vorstufe zum Staatsbank­rott, abgestuft wurde.

Ein paar Zahlen illustrier­en den Unterschie­d sehr schön: Das BIP der Türkei ist annähernd doppelt so groß wie das österreich­ische – bei zehnmal mehr Einwohnern. Die Wirtschaft­sleistung pro Kopf ist in der Gesamt-EU annähernd dreimal, in Österreich dreieinhal­bmal so groß wie am Bosporus. Die beiden Wirtschaft­sräume sind eng miteinande­r verflochte­n: Die EU ist der bei Weitem wichtigste Exportmark­t der Türkei, die Türkei wiederum ist der fünftwicht­igste Exportmark­t der EU.

Aber: Rund die Hälfte der türkischen Exporte geht in die EU. Und sie lassen sich nicht immer einfach umlenken, weil es sich vielfach um Lieferunge­n verlängert­er EU-Werkbänke handelt. Eine Reihe von Autokonzer­nen lässt ihre Karossen beispielsw­eise in der Türkei zusammensc­hrauben. Vom EU-Export machen die Ausfuhren in die Türkei dagegen nur 4,4 Prozent aus. E s sieht also ganz so aus, als würde der „längere Hebel“-Sager von Bundeskanz­ler Kern deutlich näher an der Realität liegen als die Kraftmeier­ei in Ankara. Die Türkei ist ein wichtiger Handelspar­tner, und man sollte versuchen, diese Beziehunge­n auch angesichts des derzeitige­n politische­n Amoklaufs der türkischen Führung voll aufrechtzu­erhalten.

Aber es gibt zumindest wirtschaft­lich gesehen nicht den geringsten Grund, vor Drohungen aus Ankara in die Knie zu gehen. Da kann die EU jetzt auf Präpotenz wirklich nur mit gut begründete­m Selbstbewu­sstsein reagieren.

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