»Dinge, die wehtun«
Afrikanische Sängerinnen drängen ins Zentrum der internationalen Popmusik. Etwa die Nigerianerin Tems. Sie zelebrierte im Londoner Hammersmith Apollo ihr Debüt »Born in the Wild«.
Viele Jahre lang dienten afrikanische Sängerinnen hauptsächlich als exotischer Aufputz westlicher Pop-Produktionen. Sie brachten oft jenes entscheidende exotische Aroma mit, das über das Schicksal eines Songs in den Charts entschied. Von Madonna über George Michael bis zu Coldplay, sie alle setzten zuweilen auf diesen Effekt.
Doch in den letzten Jahren drängen junge Afrikanerinnen unter eigenem Namen ins Rampenlicht. Anders als früher nicht mehr rund um Genres wie Jazz und Weltmusik, unter denen etwa legendäre Sängerinnen wie Letta Mbulu und Miriam Makeba rubriziert wurden. Angelique Kidjo war eine erste Vorreiterin, die das afrikanische Erbe und aktuelle Popmusik zusammendachte. Etwa auf ihrem Konzeptalbum „Remain in Light“, einer Hommage auf das Genie der amerikanischen New-Wave-Combo Talking Heads.
Mittlerweile tummeln sich im Windschatten männlicher Weltstars afrikanischer Herkunft wie Burna Boy und Wizkid eine Vielzahl hochtalentierter Frauen. Um sich leichter ins Gedächtnis zu drängen, agieren sie unter einprägsamen Kurznamen. Etwa die Nigerianerin Simi, die mit ihrem zweiten Album immerhin Platz fünf der US-Popcharts entern konnte. Oder Amaarae aus Ghana, die fantasievoll Pop, R&B und Dancehall mischt. Oder Zuchu, eine aus Tansania gebürtige, in Dar es Salaam lebende Vokalistin, die binnen Kurzem über 500 Millionen Zuseher auf ihrem YouTube-Kanal versammeln konnte.
Ein zehnköpfiger Chor lud live ihren betont coolen Gesang mit Ekstase auf.
Die erfolgreichste dieser neuen dunklen Amazonen ist allerdings die aus Lagos, Nigeria, stammende Sängerin und Komponistin Temiìlade Openiyi. Geboren wurde sie, so erzählt sie gerne, wegen eines Stromausfalls bei Kerzenlicht. Freundlicherweise kürzte auch sie ihren Namen ein: auf ein knappes Tems. In den letzten fünf Jahren hat die 29-jährige vorrangig mit großen Namen gearbeitet. Mit Justin Bieber und Beyoncé, mit Wizkid und mit Rihanna, mit der sie das Lied „Lift Me Up“für den Soundtrack von „Black Panther: Wakanda Forever“komponierte, der für den besten „Original Song“bei den Oscars nominiert war. Gewonnen hat sie dann aber einen Grammy. Und zwar für ihre Zusammenarbeit mit dem kanadischen Rapper Drake. Ihr gemeinsamer Song „Wait for U“wurde in der Kategorie Melodic Rap Performance ausgezeichnet.
So weit, so gut. Jetzt aber war es an der Zeit, ein Debütalbum zu veröffentlichen. Es heißt „Born in the Wild“. Tems stellte es live im Hammersmith Apollo in London vor.
„Higher“. Feuerrot gekleidet tänzelte sie mit ziemlicher Coolness vor die Augen ihrer fanatischen Fans. Locker konnte sie mit einer Ballade starten. Lieblich war „Higher“dennoch nicht. Es adressierte die Flucht vor schlimmen Zuständen. „What do you want from a life of a hopeless?“, fragte Tems, um dann über ihre Flucht ins „land of discovery“zu erzählen. Akustikgitarrenächzen, Keyboardschluchzen und sonst nur ihre in die Eingeweide fahrende Altstimme. „Running away from the suffering, I’m gone, yeah“, sang sie hier. Das Stück ist schon einige Jahre älter.
Das nachfolgende, zart pulsierende „Avoid Things“war ein dezenter Hinweis darauf, dass diese Künstlerin nicht gewillt ist, auch nur irgendeine negative Erfahrung zu machen. „Bad man wanna play mind games on me, save me from this.“Dann folgten die ersten Melodien ihres Debüts.
Typisch für ihre Musik ist die Kombination von reduziertem R&B mit opulenten afrikanischen Melodien. Zeitweilig wurde Tems auf der Bühne von einem zehnköpfigen Chor begleitet. Er lud ihren betont coolen Gesang mit purer Ekstase auf. Anders als es das Klischee für schwarze Sängerinnen will, trägt Tems ihr Herz nicht so offenkundig auf der Zunge. Da ist ein bisschen Soul von Kolleginnen durchaus hilfreich.
Reinheit. „Ich leide definitiv unter den Symptomen eines Perfektionismus“, sagt Tems über die Zeit im Studio. Beim Aufnehmen sei es ihr um „Reinheit“gegangen. Die sei nur möglich, wenn sie im Studio nicht mit Reaktionen anderer Menschen konfrontiert ist. Dort brauche sie eine gewisse „splendid isolation“. Manchmal drängeln ihre Ideen außerhalb der geschützten Werkstätte in ihr Bewusstsein. Nicht selten auf Reisen. Dann muss Tems die Flugzeugtoilette aufsuchen, um ein Fragment einzusingen.
Was so spontan beginnt, wird einem mehrfachen Überarbeitungsprozess unterzogen. Wohl auch aus Selbstschutz, denn in den traumgleichen Zuständen, in denen ihr die besten Sachen einfallen, ist jegliche Zensur ausgefallen. „Da sind oft komische Dinge dabei, Dinge, die wehtun.“
Verletzte Gefühle, die bleiben. Etwa, dass sich Tems als Kind für ihre tiefe Stimme geniert hat. Es gab Phasen, in denen sie versuchte, in die oberen Register zu kommen. Ihre kluge Musiklehrerin hielt sie bald davon ab. Ein Vorbild war ihr Sade Adu, die gleichfalls familiäre Wurzeln in Nigeria hat. Mit ihr teilt Tems auch den ökonomischen Umgang mit Bewegungen auf der Bühne. Andeutung ist ihr wichtiger als vollendete Ausführung. Das vordergründig Expressive meidet sie beim Gesang, bei Gesten und Tanzschritten.
Ein Vorbild war für sie Sade Adu, die auch familiäre Wurzeln in Nigeria hat.
Einem Hang zum Geheimnis gehorcht auch die Struktur ihrer Kompositionen. Sie erschließen sich erst nach mehrmaligem Hören ganz. Eine Ausnahme ist die Titelnummer „Born in the Wild“. Kurios, wie sie „thee“statt „the“singt, ganz so als begänne das nächste Wort mit einem Vokal. Zu zarter Akustikgitarre entrollt sie Szenerien ihrer Kindheit, erinnert sich daran, dass es immer um Flucht ging.
Jene in die Musik glückte. Und so klingt es wie der Dank an eine Gottheit, wenn sie hier Zeilen wie „For so long I was silent, oh, you givin more than I imagined“intoniert. Spätestens mit diesem Alben hat sie die Schatten der Vergangenheit endgültig vertrieben. Das Rampenlicht wird ihr eine verlässliche Sonne sein.