Die Angst und das Schweigen in Russland
Die meisten Russen tragen den Krieg in der Ukraine mit, gleichzeitig ist die Gesellschaft verstört und hilflos. Zwei Welten in der russischen Hauptstadt.
Die Sonne ist untergegangen, über der Moskwa scheint der Mond. Boote schippern auf dem Fluss, auf den Radwegen sausen E-Roller hintereinander. Eine kleine Holzbühne unter den Bäumen, unweit ein Spielplatz. Aus den Boxen erklingen Salsatöne. Die Menschen bewegen sich zur Musik, beobachtet von den zu Denkmälern gewordenen Helden der Sowjetunion.
Hier, im Moskauer Park Museon, einer Art Ablageplatz für die abgetragenen Statuen, stehen sie auf dem Rasen, stehen entlang der steinernen Wege. Der Elf-Tonnen-Dzierz˙yn´ski, die Stalin-Büste, Lenin, Lenin, Lenin. Eine Fünzigerjahre-Skulptur nistet zwischen Bäumen, mit sechs Figuren aus Bronze, darunter eine Frau mit Kind auf dem Arm und Taube in der Hand. „Wir fordern Frieden“, steht auf dem Sockel.
„Frieden“ist ein gefährliches Wort im Russland dieser Tage. Keine tausend Kilometer von der ausgelassenen Stimmung im Museon-Park entfernt führt Russland Krieg gegen seine Nachbarn. Führt einen Krieg, den es nicht so nennt. Tötet, zerstört, vergewaltigt, weil es den Verlust der imperialen Größe, für die die Helden hier stehen, nicht verkraftet.
Voller Menschenhass. Im Fernsehen zeigen sie Bomben. „Mariupol. Russische Stadt.“Schüsse aus Panzern, Explosionen, „befreite“Kinder, Spritzen von „drogenabhängigen Nazis“. Immer wieder, in veränderter Montage. Es ist eine Art Rausch. Voller Menschenhass.
„Die Ukraine muss sich ergeben, wenn sie Angriffe auf Schulen, Geburtskliniken, Wohnhäuser vermeiden will“, schreibt Telegram-User „Alexander“, er bekommt Worte der Zustimmung dafür. „Mein Land ist ein schwarzes Loch. Ein Abgrund statt Heimat“, sagt Nastja Krasilnikowa, eine russische Feministin, die Moskau im März den Rücken gekehrt hat und nun, wie so viele Russinnen und Russen, die den Krieg verurteilen, in Riga lebt. „Leid, nur noch Leid, kein anderes Gefühl mehr“, sagt sie und sammelt Geschichten ukrainischer Frauen. Sie will damit die russische Bevölkerung aufrütteln, die sich in großen Teilen gar nicht aufrütteln lassen will, weil sie nichts Bestürzendes hören möchte. „Ein Schutzmechanismus“, sagen Psychologen.
Es sind zwei Welten, die sich in Moskau, in Russland finden. Menschen, die sich so weit voneinander entfernt haben, dass kaum ein Wort sie mehr verbindet. Realitäten, die gegensätzlich sind und doch Hand in Hand gehen. Sommerliches Lachen, Freude, Jauchzen. Tote, Särge, verzweifeltes Weinen. Schweigen. Schweigen überall. Herumlavieren, aus Angst, ausweichen, aus Angst, Themawechsel, aus Angst. Kaum einer will frei sprechen. „Ausländische Zeitung? Gott bewahre! Ich will nicht in den Knast.“
Die neuen Gesetze – zur Tätigkeit als „ausländischer Agent“, zum Staatsverrat, zum „Einfluss“aus dem Ausland, zur „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“–, sie sind so schwammig formuliert, dass sie die Gewalt durch die Staatsmacht noch weiter verstärken. Es gibt keine Wahlen, keine funktionierende Justiz, keine Kanäle, um Einfluss auf den Staat zu nehmen. Die Menschen sind verstört und hilflos.
„Die Gesellschaft hat keine Orientierung, keine Zukunft, keinen Idealismus, sie ist, noch aus Sowjetzeiten, stark an Gewalt gewöhnt und passt sich an diese Gewalt an“, sagt der Meinungsforscher Lew Gudkow vom Moskauer Lewada-Zentrum.
Atomisierte Gesellschaft. Der Staat kann jeden treffen. Niemand will sich treffen lassen. Also Mund halten. Straßenprotest ist tabu, er ist vernichtet. Gudkow wie auch andere Soziologen, im Land und außerhalb, schreiben von einer „atomisierten Gesellschaft“. Die Menschen fühlen sich allein, einsam, halten den Nächsten für einen „Zombie“. Manch Eheleute haben ihre Wohnung aufgeteilt, begegnen einander lediglich im Flur oder in der Küche. Manche Kinder haben den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Sie halten sich gegenseitig für „Monster“oder „Verräter“. Was denkt der Nachbar, was die Verkäuferin? Es ist ein vorsichtiges Herantasten geworden, ein Tapsen im unsichtbaren Krieg voller Minen in Form willkürlich angewandter Gesetze.
Oberflächlich gesehen ist Moskau wie eh und je im Sommer: grün, die Menschen kaufen für die Datscha ein, setzen Blumen, sitzen auf den Terrassen der hübschen Cafe´s, schlürfen kalte fruchtige Cocktails. Die Kinder entdecken ihre künstlerischen und sportlichen Fähigkeiten bei den zahlreichen Ferienbetreuungsangeboten in den Parks. Sie malen („Aber bloß keine hellblau-gelbe Kombination, mein Kind!“), sie basteln („Panzer sind erlaubt, ja“). So manche Erwachsenen machen sich mehrmals täglich Gedanken, ob sie noch in der Stadt, ja im Land bleiben wollen. Können. Wohin gehen? Was tun? Tränen laufen über ihre Gesichter. Sie lassen die Arme baumeln. „Wie, wie kann ich etwas ändern? Ich kann nichts machen.“
Manche bangen um ihre Jobs. Die Autoindustrie ist praktisch zusammengebrochen. Im Mai wurden im Vergleich
Kaum einer will frei sprechen. »Ausländische Zeitung? Gott bewahre!«
zum Vorjahr lediglich drei Prozent an Personenwagen produziert. Die Menschen sind nicht arbeitslos gemeldet, sie sind in Betriebsferien, haben Kurzarbeit. Vorerst. Viele warten besorgt auf den Herbst. Die Unberechenbarkeit macht mürbe. „Pläne mache ich nur bis morgen, die weitere Zukunft ist vollkommen ungewiss“, sagen Frauen und Männer wie aus einem Mund.
Auf manchen Bäumen und Bauzäunen quer durch die Stadt hängen grüne Bändchen – als Zeichen gegen den Krieg. Im Setun-Park im Westen Moskaus, einer naturbelassenen Gegend, in der die vielen Biber die Bäume anfressen, hat jemand Friedenszeichen auf den Weg gemalt und in vielen Sprachen das Wort Frieden geschrieben: mir, peace, pace, paix, schalom. Auf einer Bank in einer Grünanlage nicht weit von der Prachtmeile Neuer Arbat liegt ein postkartengroßer Zettel, in Blau-Gelb, den Farben der Ukraine. „Ich habe Verwandte dort“, steht darauf. Irgendjemand sprüht Friedenstauben auf den Asphalt, irgendjemand schreibt mit einem schwarzen Edding „Nein zum Krieg“auf ein Geländer. „Passt auf die Kameras in der Nähe auf“, rät die Demokratiebewegung Wesna (Frühling) in ihrer „Anleitung zum Widerstand“und sammelt mittels eines Telegram-Bots Bilder solchen unsichtbaren Protests, der zeigen soll, dass nicht alle im Land damit einverstanden sind, was der Präsident tut. Auch wenn die Umfragewerte die Zustimmung zu diesem Handeln bei fast 60 Prozent sehen, manche auch bei 75.
Den sichtbaren und hörbaren Protest erstickt der Staat. Der Moskauer Kommunalpolitiker Alexej Gorinow muss für das Wort Krieg sieben Jahre ins Gefängnis. Ilja Jaschin, einem der letzten Oppositionspolitiker, die noch im Land geblieben sind, drohen mehrere Jahre Haft. Der 39-Jährige, der einst Schulter an Schulter mit Alexej
Nawalny, dem Vergifteten, und Boris Nemzow, dem Ermordeten, für ein anderes Russland auf die Straße gegangen war, ließ es sich auch nach dem 24. Februar nicht nehmen, seine Meinung zu sagen. Er verurteilte den Krieg, er informierte über die Verbrechen in Butscha. Er sagte es laut und sagte es immer wieder. Die meisten halten sich aus Passivität an die Position der Machtelite, stimmen ihr still und leise zu. Sprechen, hinterfragen, Kritik üben, all das ist nicht gefragt in einem Land, in dem mit allen Mitteln eine Gleichschaltung der Meinungen versucht wird.
Ex-McDonald’s. Die Sanktionen trüben das Leben vieler – und sorgen für Konsolidierung mit dem Kreml. „Soll er doch, dieser Westen! Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen!“, schreien die Hitzköpfe im Staats-TV, wiederholen die Menschen auf der Straße. Das Papier fehlt? Die Helligkeit der weißen Farbe sei ohnehin schädlich für die Augen, ließ der Minister für Industrie und Handel verlautbaren. Fehlen in den ExMcDonald’s-Filialen – der neue Name Lecker und Punkt will den Russen nicht über die Lippen – bald Kartoffeln für die Pommes frites? Das Essen sei ohnehin ungesund, meldet das Gesundheitsamt prompt.
Artjom, der seinen Nachnamen nicht nennen will, sitzt am Fenster der einstigen US-Fastfoodkette nahe dem Kiewer Bahnhof im Westen Moskaus und frühstückt. Zuhause sei es nicht auszuhalten, die Eltern stritten sich ständig, „wegen der Ereignisse“, wie er sagt. Viele sprechen so, um das Wort Krieg nicht verwenden zu müssen. „Wir sind alle so aggressiv geworden, lassen niemanden mehr zu Wort kommen. Keine Ahnung, wohin das alles führt. Zu nix Gutem“, sagt der Student und nippt am Kaffee. Eigentlich wollte er ins Ausland, nach Tschechien oder Polen, ein Semester studieren. Oder zwei. „Alles verschlossen. Man ist verdammt hierzubleiben. Man ist verdammt, sich anzupassen, wenn man überleben will.“Die Autos an der achtspurigen Straße hupen, die Menschen eilen zur Metro. Der Wasserbrunnen um die Ecke spielt klassische Musik.
Die Sanktionen trüben das Leben – und sorgen für Zustimmung zur Kreml-Linie.