Noch warten wir
Wie fühlt sich ein Umzug in ein anderes Land in Coronazeiten an? Mein Bruder Michael hat es erlebt.
„Zu Weihnachten sehen wir uns dann alle in Wien.“Davon waren wir lang fest überzeugt. Mein Bruder Michael sollte mit dem Flugzeug aus England kommen, meine Eltern mit dem Auto aus Südtirol. Doch während noch viele auszubildende Skilehrer aus England nach Österreich reisten, sagten wir Weihnachten ab. Wir wollten vernünftig sein, und wir blieben optimistisch: „Wir holen das Fest im Februar nach, da wird es bestimmt besser.“Doch nicht nur in Großbritannien wurde es nicht besser, auch nicht in Österreich. Und Südtirol hatte zeitweise ohnehin die höchste Sieben-Tage-Inzidenz Europas. Wir fokussierten uns also auf Ostern. Doch dann verschlechterte sich die Situation in Wien.
Meine Eltern hatten einander, ich meinen Partner und meinen Freundeskreis in Wien. Und mein Bruder? Er war erst im Herbst 2020 nach Oxford gezogen, um eine Stelle an der Universität anzutreten. Er ist 31, Single, und in England kannte er kaum jemanden. Das sollte sich auch nicht so schnell ändern. Denn was ihn erwartete, war nicht die große weite akademische Welt, die er aus seiner Zeit in Prag und von zahlreichen internationalen Konferenzen kannte.
In Oxford hat er die Uni nur selten von innen gesehen. Zum einen waren ohnehin fast alle Kollegen im HomeOffice, außerdem wollte er seine Vermieter, ein älteres Paar, schützen. Seinen Geburtstag, Weihnachten, Neujahr und Ostern feierte er mit ihnen und seiner Mitbewohnerin, die ebenfalls deutlich älter ist. Im Haus legte man großen Wert auf die strikte Einhaltung der Pandemie-Maßnahmen. Nach Weihnachten wurden diese noch strenger, und das Wetter auch nicht besser. Meinem Bruder, den ich immer als ausgeglichene Person erlebt habe, merkte man an, wie sehr der Lockdown in der Ferne an seinen Nerven zehrte. „Wenn man nichts außer die Arbeit hat, ist das nicht gut für die Psyche“, sagt er. Mit Spaziergängen und Video-Telefonaten versuchte er sich bei Laune zu halten. Nachrichten zur Coronakrise wollte er gar keine lesen, weil sie ihn zu sehr deprimierten.
Heute leuchten die Wiesen auf Michaels Handyfotos in sattem Grün. Gern hätte ich sie mir selbst angesehen, so wie sein neues Leben in England, das gerade erst so richtig beginnt. Mittlerweile ist er regelmäßig auf der Uni, obwohl viele Kollegen noch immer daheim arbeiten. Seinen Projektleiter hat er erst vor Kurzem zum ersten Mal getroffen. Wie viel Zeit seit unserem letzten Treffen vergangen ist, lässt sich an den Haaren meines Bruders ablesen, die damals kurz waren und heute bis zu den Schultern reichen.
Wiedersehen rückt näher. Normal fühlt sich noch gar nichts für ihn an. Obwohl in England mittlerweile wieder vieles möglich ist und viele geimpft sind, ist er nur vorsichtig optimistisch. Denn die Ein- und Ausreisebestimmungen sind noch sehr streng. „Bizarr“findet er es heute, dass er im letzten September noch eine internationale Konferenz organisiert hat. Derzeit ist so etwas unvorstellbar. Doch das Wiedersehen mit Freunden und Familie rückt näher.
Im Juli habe ich Geburtstag. Den wollen wir alle gemeinsam in Wien feiern. Ein kleines Grillfest soll es werden, auf der Terrasse. Diesmal geht es sich aus, da bin ich mir ganz sicher.