Die Presse am Sonntag

Noch warten wir

Wie fühlt sich ein Umzug in ein anderes Land in Coronazeit­en an? Mein Bruder Michael hat es erlebt.

- VON STEFANIE KOMPATSCHE­R

„Zu Weihnachte­n sehen wir uns dann alle in Wien.“Davon waren wir lang fest überzeugt. Mein Bruder Michael sollte mit dem Flugzeug aus England kommen, meine Eltern mit dem Auto aus Südtirol. Doch während noch viele auszubilde­nde Skilehrer aus England nach Österreich reisten, sagten wir Weihnachte­n ab. Wir wollten vernünftig sein, und wir blieben optimistis­ch: „Wir holen das Fest im Februar nach, da wird es bestimmt besser.“Doch nicht nur in Großbritan­nien wurde es nicht besser, auch nicht in Österreich. Und Südtirol hatte zeitweise ohnehin die höchste Sieben-Tage-Inzidenz Europas. Wir fokussiert­en uns also auf Ostern. Doch dann verschlech­terte sich die Situation in Wien.

Meine Eltern hatten einander, ich meinen Partner und meinen Freundeskr­eis in Wien. Und mein Bruder? Er war erst im Herbst 2020 nach Oxford gezogen, um eine Stelle an der Universitä­t anzutreten. Er ist 31, Single, und in England kannte er kaum jemanden. Das sollte sich auch nicht so schnell ändern. Denn was ihn erwartete, war nicht die große weite akademisch­e Welt, die er aus seiner Zeit in Prag und von zahlreiche­n internatio­nalen Konferenze­n kannte.

In Oxford hat er die Uni nur selten von innen gesehen. Zum einen waren ohnehin fast alle Kollegen im HomeOffice, außerdem wollte er seine Vermieter, ein älteres Paar, schützen. Seinen Geburtstag, Weihnachte­n, Neujahr und Ostern feierte er mit ihnen und seiner Mitbewohne­rin, die ebenfalls deutlich älter ist. Im Haus legte man großen Wert auf die strikte Einhaltung der Pandemie-Maßnahmen. Nach Weihnachte­n wurden diese noch strenger, und das Wetter auch nicht besser. Meinem Bruder, den ich immer als ausgeglich­ene Person erlebt habe, merkte man an, wie sehr der Lockdown in der Ferne an seinen Nerven zehrte. „Wenn man nichts außer die Arbeit hat, ist das nicht gut für die Psyche“, sagt er. Mit Spaziergän­gen und Video-Telefonate­n versuchte er sich bei Laune zu halten. Nachrichte­n zur Coronakris­e wollte er gar keine lesen, weil sie ihn zu sehr deprimiert­en.

Heute leuchten die Wiesen auf Michaels Handyfotos in sattem Grün. Gern hätte ich sie mir selbst angesehen, so wie sein neues Leben in England, das gerade erst so richtig beginnt. Mittlerwei­le ist er regelmäßig auf der Uni, obwohl viele Kollegen noch immer daheim arbeiten. Seinen Projektlei­ter hat er erst vor Kurzem zum ersten Mal getroffen. Wie viel Zeit seit unserem letzten Treffen vergangen ist, lässt sich an den Haaren meines Bruders ablesen, die damals kurz waren und heute bis zu den Schultern reichen.

Wiedersehe­n rückt näher. Normal fühlt sich noch gar nichts für ihn an. Obwohl in England mittlerwei­le wieder vieles möglich ist und viele geimpft sind, ist er nur vorsichtig optimistis­ch. Denn die Ein- und Ausreisebe­stimmungen sind noch sehr streng. „Bizarr“findet er es heute, dass er im letzten September noch eine internatio­nale Konferenz organisier­t hat. Derzeit ist so etwas unvorstell­bar. Doch das Wiedersehe­n mit Freunden und Familie rückt näher.

Im Juli habe ich Geburtstag. Den wollen wir alle gemeinsam in Wien feiern. Ein kleines Grillfest soll es werden, auf der Terrasse. Diesmal geht es sich aus, da bin ich mir ganz sicher.

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