Rot-weiß-rote Perspektiven
Noch 19 Tage bis zur Euro 2021. Österreichs Fußballer sind in Form, doch die Nationalmannschaft überzeugt nicht. Wie kann sie gewinnen? Und was kann ihr zum Verhängnis werden?
Eine überzeugende österreichische Nationalmannschaft, dynamisch, mit Zug zum Tor, voller Ideen und Spielwitz – das hat es schon gegeben. Man muss nur entsprechend weit zurückgehen im Archiv. Die hohe Fußballkunst ist dieser Tage wohl auch ein wenig zu viel verlangt, denn im vergangenen Jahr hat das ÖFB-Team zumindest seine Spiele gewonnen. Auch wenn sich kein rot-weiß-roter Fußballfan für diese Auftritte begeistern konnte. Just vor der Europameisterschaft (ab 11. Juni) funktioniert das Gewinnen allerdings nicht mehr so recht.
Die jüngsten Darbietungen waren besorgniserregend, von Spielkultur kann keine Rede sein und während die EM-Auftaktpartie gegen Nordmazedonien (13. Juni) näher rückt, muss klar beanstandet werden: Diese Truppe ist zu sehr viel mehr fähig, als sie unter Teamchef Franco Foda bisher auf den Platz gebracht hat. Ein EM-Ausblick.
Die Trümpfe. Teamchef Foda (seit 2017 im Amt) hat den besten rot-weiß-roten Kader seit gut zwei Jahrzehnten zur Verfügung, alle Wunschspieler dürften rechtzeitig für die Endrunde fit werden. Im vorläufigen 30er-Aufgebot finden sich 22 Profis aus der deutschen Bundesliga wieder. Keine Mitläufer, sondern Führungspersönlichkeiten, Stammspieler und Shootingstars wie David Alaba, Xaver Schlager, Christoph Baumgartner und Sasˇa Kalajdzˇic´. Foda hat mitunter die Qual der Wahl.
Nur: Was Marcel Sabitzer und Co. in Deutschland unter Trainern wie Nagelsmann, Glasner und Rose praktizieren – Offensivdrang, schnelles Umschalten, aggressives Pressing – ist etwas ganz anderes, als im österreichischen Teamdress verlangt wird.
Franco Foda. Trotz beachtlicher Offensiv-Qualität lässt der Deutsche passiven, mitunter destruktiven Fußball spielen. Die Ergebnisse gaben Foda lang recht, wenngleich die EM-Qualifikation als Gruppenzweiter hinter Polen eine Pflichtaufgabe war, allein schon ob des erweiterten Teilnehmerfeldes (24 Nationen). Auch in der Nations League gelang dank knapper Siege über Außenseiter der Aufstieg.
Doch die jüngsten drei Länderspiele mit insgesamt sieben Gegentreffern haben gezeigt, was passiert, wenn auch die Defensive nicht mehr hält. Zur Erinnerung: Es war keine Fußball-Großmacht, sondern Dänemark, das dem ÖFB-Team im März mit einem 4:0 die Grenzen aufzeigte. In 90 Minuten gelang kein Torschuss.
Fodas Team gestaltet nicht, es verwaltet und reagiert. Vorsicht mag gegen EM-Gruppenfavorit Niederlande (17. Juni) angebracht sein, gegen Nordmazedonien (13. Juni) und die Ukraine (21. Juni) aber sind Ideen, Kombinationen und Tore gefragt.
Außerdem: Fodas zahlreiche unterschiedliche Systeme sollten Flexibilität bringen, haben dem Zusammenspiel aber geschadet und verunsichert.
Tormannproblem. Das einstige Tormannland Österreich hat keine souveräne Nummer eins mehr. Alexander Schlager ist Fodas erste Wahl, sattelfest war der Lask-Goalie aber nicht. Seine Ersatzleute kommen ohne Spielpraxis (Pavao Pervan) oder sind schon einmal ausgemustert worden (Heinz Lindner).
Wer am Ende auf der großen Bühne das Tor hüten wird, benötigt dringend einen Schub Selbstvertrauen. Ein wackeliger Auftakt könnte fatale Folgen haben, denn früher oder später wartet in einer Endrunde eine Situation, in der der Schlussmann über Erfolg und Misserfolg entscheiden kann.
David Alaba. Foda setzt seine Spieler gern auf anderen Positionen als in den Vereinen ein, der Bayern-Star aber gibt überhaupt einen Art Freigeist im Mittelfeld. Ja, Alaba hat in München wieder öfter im zentralen Mittelfeld gespielt und das souverän, im Team aber war sein Offensivdrang zuletzt vor allem kontraproduktiv.
Auf welcher Position ihn wohl sein neuer kolportierter Klub Real Madrid sieht? Ob sich Alaba im Nationalteam noch mehr offensiv in Szene setzen will, um nicht auch in Madrid im ungeliebten Abwehrzentrum – wo er freilich zur erweiterten Weltklasse zählt – eingesetzt zu werden? Große Spiele werden von Ausnahmekönnern entschieden. In dieser Liga spielt Alaba im Mittelfeld aktuell nicht.
Franco Foda grinste: »Ich hoffe, ich habe die Besten und die Richtigen einberufen.«
Torgaranten? Marko Arnautovic´ hat in den vergangenen Jahren oft den Alleinunterhalter an vorderster Front gegeben, durchaus mit Erfolg. Mit seiner Rückkehr – er hat die jüngsten drei Länderspiele verpasst – sollte die Offensive wieder an Dynamik gewinnen.
Rechtzeitig zur EM hat sich Sasˇa Kalajdzˇic´ ins Rampenlicht geschossen. Der Stuttgart-Profi traf in der deutschen Bundesliga am laufenden Band, hat bei vier nennenswerten Einsätzen im ÖFB-Team drei Tore erzielt und ist dank Mittelfeld-Vergangenheit mehr als nur klassischer Strafraumstürmer.
Härtetest. Noch gilt es zu klären, wie streng das Team im EM-Quartier im Tiroler Seefeld abgeschottet wird und wie sehr das ob der Corona-Maßnahmen auch geboten ist. Der Lagerkoller beim EM-Debakel 2016 sollte noch warnend in Erinnerung sein.
Ebenfalls bedeutend ist der Test am 2. Juni gegen EM-Favorit England, der erste große Gegner für Fodas Auswahl seit einem freundschaftlichen 0:3 gegen Brasilien vor drei Jahren. Alles ist denkbar: Eine Abfuhr ausgerechnet vor Turnierbeginn oder ein überraschender Prestigeerfolg mitsamt neu gewonnenem Selbstvertrauen.
Jedenfalls sollte in den nächsten vier Wochen tunlichst viel in Österreichs Richtung laufen. Sonst droht am Ende wieder die Feststellung: Mit dieser Mannschaft wäre sehr viel mehr möglich gewesen.