Wie die Mafia von Corona profitiert
Mafiosi verteilen Lebensmittel und verzichten auf Schutzgelder.
Armut, Arbeitslosigkeit und Liquiditätsengpässe in Italien sind fruchtbarer Boden für das organisierte Verbrechen: Experten warnen vor mafiöser Einflussnahme.
Anfang April, mitten in der Coronakrise, ging Giuseppe Cusimano einkaufen. Unzählige Tragtaschen ließ er mit Lebensmitteln füllen. Dann verteilte er sie im Zen, seinem Viertel am Stadtrand von Palermo. Geduldig standen die Menschen Schlange, um das großzügige Geschenk entgegenzunehmen. Denn in den heruntergekommenen Wohnbauten ist kaum eine Familie von den wirtschaftlichen Shutdown-Folgen verschont worden: Armut, Arbeitslosigkeit, Verschuldung plagen fast jeden.
Giuseppe Cusimano ist eine Berühmtheit im Zen. Sein älterer Bruder, Nicolo` , sitzt im Gefängnis, er ist ein berüchtigter Drogenhändler und Boss der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia. Giuseppe steht im Verdacht, die Geschäfte des Bruders weiterzuführen, er hat gute Kontakte zu wichtigen Bossen.
Cusimanos Einkaufstour sorgte weit über Sizilien hinaus für Wirbel. Die Polizei ermittelte. Der Journalist, der über die Aktion berichtet hatte, wurde bedroht. Und Cusimano reagierte gekränkt. Auf Facebook gab er sogar eine Art Bekenntnis ab: „Der Staat will nicht, dass wir helfen, weil wir Mafiosi sind. Wenn ich so meinen Leuten helfen kann, bin ich stolz, Mafioso zu sein.“
Der Vorfall erregt Aufsehen, weil er ein typisches Verhaltensmuster der Mafia in Zeiten der Not aufzeigt: Krisen werden genützt, um Einfluss auszubauen. Dafür werden Kriminelle mitunter zu Philanthropen. Wenn man schneller als der Staat den Ärmsten hilft, ist die Botschaft unmissverständlich: Mafiöse Familien kümmern sich um ihre Leute, die Regierung nicht. Die Mafia füllt die Lücken des Staats.
Soziologe Maurizio Catino, Autor eines auch auf Englisch erschienenen Buchs über Mafia-Organisationen, spricht im Interview mit der „Presse am Sonntag“von „krimineller Fürsorge, die den sozialen Konsens stärkt“. Das hat System: In Neapel ließ die Camorra Nahrungsmittel verteilen. Es gibt Hinweise, dass Mafiagruppen derzeit auf Schutzgeld verzichten. Mafiafürsorge hat Tradition: Schon während der Wirtschaftskrise 1929 habe Cosa Nostra in Chicago Schutzgelder gestrichen und Essen verschenkt, erklärt Professor Catino, der an der Universität Mailand-Bicocca lehrt und forscht.
Die mafiöse „Sozialhilfe“alarmiert Ermittler: „Das ist Teil ihres Expansionsplans“, befürchtet Federico Cafiero de Raho, der oberste Anti-MafiaStaatsanwalt Italiens. Polizeichef Franco
Gabrielli warnte Interpol: „Arbeiter und Familien im Süden des Landes werden durch großzügige Lebensmittelspenden von der Mafia umgarnt.“
Notleidende haben wenig Alternativen, öffentliche Hilfe kommt kaum an: „Wer hungrig ist, sucht Brot, egal, aus welchem Ofen es stammt und wer es verteilt. Nur in Zeiten des Wohlstands kann man sich den Luxus der Wahl leisten“, schrieb Gomorrha-Autor Roberto Saviano in „La Repubblica“.
Fruchtbarer Boden. Die Pandemie ist ein fruchtbarer Boden für die Mafia – denn Armut grassiert. Der strikte Shutdown (fast alle Firmen mussten ihre Produktion herunterfahren) stürzte das Land in eine schwere Krise: Die Zahl der Menschen in Armut könnte um eine Million ansteigen, schätzt Landwirtschaftsverband Coldiretti. Eine halbe Million Jobs ging verloren. Besonders betroffen ist der Süden.
Die desolate Lage in seiner Heimatstadt, Palermo, hebt Daniele Marannano im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“hervor. Er ist Mitbegründer der Anti-Mafia-Organisation Addiopizzo, die sich gegen Schutzgelderpressung einsetzt und Betroffenen hilft, sich zu wehren. 2004 tapezierte Marannano Palermo mit Aufklebern, auf denen stand: „Wer Schutzgeld zahlt, hat keine Würde.“So wurde Addiopizzo geboren, inzwischen sind über 1000 Firmen dabei. Heute sagt Marannano bitter: „Es ist nicht einfach, unter diesen Umständen zu helfen. Unternehmen haben Liquiditätsprobleme, sie können weder ihre Arbeiter noch Lieferanten zahlen – ein Teufelskreis.“Die versprochene Staatshilfe stecke in der „bürokratischen Mühle“fest.
Natürlich bestehe das Risiko, dass verzweifelte Unternehmer oder verarmte Bevölkerungsschichten in die Klauen von Kredithaien und Mafiosi gerieten. Doch Sizilien könne (seit der Ermordung der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992, Anm.) auf Staatsanwälte und Polizei zählen, „die ganze Territorien und Branchen von der Cosa Nostra befreit haben“.
Alarmiert ist Marannano vielmehr wegen der wachsenden Ungleichheit. „Es genügt nicht mehr, Erpressungsopfer zu schützen. Zuerst müsste man Brennpunktviertel von Armut und Zerfall befreien, das ist die Basis für die Entwicklung der Organisierten Kriminalität.“Addiopizzo verteilt nun in Palermos Armenviertel Kalsa warme Speisen, für Kinder werden Computer gesammelt.
Marannano vermisst politische Antworten. Nicht einmal vorhandene Instrumente würden eingesetzt. So gibt es in Sizilien ein Gesetz, das Schutzgeldopfer, die ihre Peiniger anklagen, entschädigt. Allerdings fehlen Ressourcen dafür: „In einem Moment wie diesem ist das besonders paradox.“
500 Kilo Kokain. Die Mafia zeigt sich indes auch in der Krise flexibel. Sie bietet „Dienstleistungen“an – von denen sie selbst profitiert. So vermittelt sie in Zeiten der Rekordarbeitslosigkeit Jobs und rekrutiert zugleich für kriminelle Aktivitäten. „Die Wirtschaftskrise droht ein Reservistenheer für die Mafia zu produzieren“, warnt Catino.
Aber vor allem ist die Mafia derzeit gefragter Kreditgeber. Denn sie verfügt über das, wonach in der Krise dringende Nachfrage besteht: Liquidität. So soll der Umsatz der kalabresischen ’Ndrangheta 55 Milliarden Euro betragen. Die ’Ndrangheta ist inzwischen Italiens reichste und mächtigste Mafiaorganisation, hat den Platz der in Bedrängnis geratenen Cosa Nostra eingenommen, kontrolliert den Drogenhandel. Und expandiert nach Norden.
Wie üppig die ’Ndrangheta-Reserven sogar in knappen Coronazeiten sind, wurde im März deutlich. In der kalabresischen Hafenstadt Gioia Tauro stieß die Polizei auf einen Schuppen, in dem 500 Kilogramm Kokain gelagert waren. Der Schuppen gehört Rocco Mole`, Sprössling einer prominenten Familie: Vater Girolamo, „Mommo“, war ebenso wie Großvater Antonio ’Ndrangheta-Boss. „Mommo“wurde gleich mehrmals lebenslänglich verurteilt.
Kokain lässt sich schnell zu Cash umwandeln. Das Geld wird Besitzern maroder Firmen geliehen, denen Banken nichts mehr geben wollen – es fließt schnell, unbürokratisch. Im April schlug die Notenbank Banca d’Italia wegen erhöhter Wuchergefahr Alarm.
Mafiaorganisationen seien aber weniger an den Wucherzinsen interessiert, als an der Firma selbst, erklärt Catino. Das Geschäft ist gut: Einem verzweifelten Unternehmer wird Geld geborgt, das er nicht zurückzahlen kann. Die Firma geht in den Besitz des Mafioso über, oder eines Strohmanns. Zum Spottpreis hat die Mafia eine „Geldwaschmaschine“erworben und erhält zudem Zugang zu Förderungen.
Werden also auch mögliche EUGelder für Italien in Taschen der Mafia verschwinden? Die größte Gefahr seien Liquiditätsengpässe, also fehlende Hilfen, sagte Catino: „Hilfsgelder müssen schnell fließen, sonst kommt die Mafia zuvor.“Genug Zeit für Kontrollen müsse aber sehr wohl eingeplant sein.
Im Gegensatz zu anderen Staaten verfüge Italien über strenge Kontrollmechanismen und Anti-Mafia-Gesetze, sagt der Experte. Wie durchsetzungskräftig Justiz und Sicherheitskräfte seien, habe sich seit der Ermordung Falcones und Borsellinos gezeigt: Mehrere Hunderte Mafiosi wurden verurteilt. Die Cosa Nostra sei geschwächt, schaffe es nicht, sich neu zu organisieren. „Der Staat hat diesen Kampf gewonnen.“
Auch in Österreich. Allerdings müssten Ermittlungsmethoden an die neuen Mafiastrategien angepasst werden. Denn Mafiosi würden zunehmend versuchen, sich in die legale Ökonomie einzugliedern. Deshalb müsse man Akteure aus dem Finanz- und Unternehmensbereich miteinbeziehen, Ermittler sollten neues Know-how erwerben. Unter die Lupe genommen werden müssten Betriebe, die plötzlich Besitzer wechseln, vor allem bei Vergabe von Zuschüssen oder Krediten. Sensibel sei derzeit die kriselnde Gesundheits-, Lebensmitteloder Tourismusbranche.
Unterschätzt werde auch die zentrale Rolle der „Mafia-Helfer“– Anwälte, Banker, Steuerberater, Unternehmer, Politiker. „Diese Personen finden Lösungen, auf die der Mafioso allein nie kommen würde“, sagt Catino. 82 Prozent der verurteilten Mafiosi seien nur fünf bis acht Jahre in der Schule gewesen. „Sie hängen vollkommen von diesen Außenstehenden ab.“
Diese Vermittler ebnen den Weg für Aktivitäten im Ausland, etwa in Österreich. Hier sei Italiens Mafia „operativ“, weiß Catino, vor allem die ’Ndrangheta. Greife man nicht härter durch, werde sie Wurzeln schlagen. Unerfahrene Ermittler müssten geschult werden, auch um die „neue Mafia“zu erkennen. Denn immer noch dominiere das Bild des Italo-Gangsters in US-Filmen.