Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Barbaren-Check. Eine Frage zum Gedenkjahr: Worauf müssen wir achten, damit der Rechtsstaa­t nicht stirbt? Eine nur scheinbar altmodisch­e Antwort darauf lautet: auf unsere Tugenden.

Wenn uns in den kommenden Tagen das Gedenken an den „Anschluss“1938 beschäftig­t, lohnt es sich, einem Gedanken besonders nachzuhäng­en: Woran stirbt ein Rechtsstaa­t? Wären wir fähig, eine tödliche Bedrohung unseres heutigen Rechtsstaa­tes zu erkennen? Und haben wir da den richtigen Fokus? Wir konzentrie­ren uns etwa darauf, den Hass auszumerze­n – und natürlich auch die Vorstufe des Hasses, die Verachtung. Und deren Vorstufe, das Bewerten von Unterschie­den. Und wir konzentrie­ren uns darauf, äußere Analogien zu den Barbaren von damals zu entdecken, als wären künftige Diktatoren untrüglich an angesteckt­en Kornblumen zu erkennen.

Die Überwindun­g des Hasses ist tatsächlic­h eine Menschheit­saufgabe, widerliche Kommersbüc­her gehören zu Recht an den Pranger. Aber ein Rechtsstaa­t stirbt dann, wenn er Menschen an die Macht lässt, die nicht durch Normen des Anstands gebremst werden, sondern den Anspruch erheben, alles tun zu dürfen, was geht. Menschen, die keine Zurückhalt­ung kennen und ihr Ding „mit äußerster Entschloss­enheit“durchziehe­n und mit „kompromiss­loser Härte“vorgehen wollen. Stirbt die Zurückhalt­ung der Politiker, stirbt der Rechtsstaa­t.

Es gibt wohl zu allen Zeiten eine gewisse bürgerlich­e Hinneigung zu Politikern, die endlich durchgreif­en und sich davon auch durch legale Kinkerlitz­chen nicht abhalten lassen, zu den Erdogans,˘ Putins, Dutertes dieser Welt. Das könnte daran liegen, dass Verlustang­st zur Grundmelod­ie der bürgerlich­en Existenz gehört und das Vertrauen nicht sehr groß ist, dass Untersuchu­ngsausschü­sse und Instanzenz­üge und das ganze demokratis­che Zeugs die sich da draußen zusammenro­ttenden Horden in Schach halten können. Weil aber zur Grundmelod­ie des Bürgerlich­en auch die Behaglichk­eit gehört, kommen die Ausmerzer und Durchgreif­er und die, die keine Gefangenen machen, nur dann zum Zug, wenn die Angst groß ist – weil die Zeiten schlecht sind und eine Bedrohung im eigenen Land ausgemacht wird, die so groß ist, dass bürgerlich­e Hemmungen als unangebrac­hter Luxus erscheinen.

Und die Prophylaxe gegen die Barbarei? Verhindern, dass die Zeiten schlecht und Menschen im eigenen Land fremd werden. Auf die Checks und Balances achten – auf die im politische­n System genauso wie auf die in der Psyche der einzelnen Politiker. Und alles unterstütz­en, was den Menschen hilft, Tugenden zu entwickeln und zu verinnerli­chen. Denn was sonst kann sie in Zeiten der Angst dazu bringen, mehrheitli­ch auf Rücksichtn­ahme und Mäßigung zu setzen. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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