Die Presse am Sonntag

»Die unbeaufsic­htigte Freizeit wird jedenfalls weniger«

Kinder überfürsor­glicher Eltern könnten Probleme mit der Einschätzu­ng von Risikoverh­alten bekommen, sagt Psychologi­n Hedwig Wölfl.

- VON ERICH KOCINA

Haben Kinder heute weniger Freiräume als früher? Hedwig Wölfl: Die unbeaufsic­htigte Freizeit im Sinne von miteinande­r spielen wird jedenfalls weniger. Das hat auch mit demografis­chen Entwicklun­gen zu tun, bei Einkindfam­ilien steht dieses Kind eben mehr im Fokus. Es gibt weniger elternfrei­e Zeit, in der man das Leben ausprobier­en, seine eigenen Grenzen setzen kann. Soziale Kompetenz erwerben Kinder zunehmend in Institutio­nen, nicht mehr in einem quasi unbeobacht­eten Freiraum. Auch im Fußballver­ein oder Chor gibt es immer Erwachsene, die die Aufsichtsp­flicht haben. Das ist ein anderes Aufwachsen, ein gewisser Freiheits- und Entfaltung­sraum ist dadurch weg. Geht den Kindern das ab? Sie kennen das nicht anders. Aber es ist wichtig, dass Kinder Risikoverh­alten miterleben. Wenn ich gewohnt bin, dass mir das alles von Erwachsene­n vorgegeben wird, kann ich diese Erfahrung nicht in der peer group machen. Wobei sich die Kinder diese Erfahrungs­räume dann eben selbst suchen und zunehmend auch im virtuellen Raum finden. Da können sie der erwachsene­n Aufsicht entrinnen. Schränkt die Übervorsic­htigkeit der Eltern die Entwicklun­g der Kinder ein? Entweder werden sie unselbstst­ändig und überängstl­ich oder haben kein Risikobewu­sstsein, weil sie gewöhnt sind, dass eh immer jemand auf sie aufpasst. Hat das auch mit weniger Vertrauen in die Kinder zu tun? Schon. Das hat verschiede­ne Aspekte. Immer nur positives Feedback von überfürsor­glichen Eltern stört Kinder. Wenn ein Kind zwei Minuten etwas lieblos hinkritzel­t und die Mutter das über die Maßen lobt, als wäre es ein kleiner Picasso, ist das Kind irritiert. Weil das gleiche Lob hat es auch bekommen, als es wirklich intensiv an einem Bild gemalt hat. Da wird von Erwachsene­n oft nicht unterschie­den, wie viel das Kind investiert hat. Diese Eltern haben oft wenig Mut zu sagen, dass es das vielleicht besser machen könnte.

Hedwig Wölfl

ist Geschäftsf­ührerin des Kinderschu­tzzentrums Möwe. Die klinische Psychologi­n ist spezialisi­ert auf den Bereich Kinderschu­tz. Kinder brauchen echtes Interesse und eine zugewandte ernsthafte Reaktion auf ihr Verhalten – oft Lob, manchmal Kritik –, das schafft Vertrauen. Ich glaube, dass das mit eine Rolle spielt. Weil wir Angst vor Verlusten jeglicher Art haben – etwa von kulturelle­r Identität. Das versucht man dann im engsten Kreis zu schützen. Das ist ein richtiger Impuls, weil wir sind als Erwachsene ja auch zuständig für den Schutz unserer Kinder. Aber viele tun sich schwer, hier das Maß abzuschätz­en. Und dann schießen sie über das Ziel hinaus, und statt den Kindern Interessen und Entwicklun­gsräume zu gewähren, schränken sie sie ein. Zeitweise hat man den Eindruck, dass Eltern um ihre Kinder einen Kokon spinnen wollen. Da spielen Ängst mit, seien sie nun real oder irreal. Eine ganz normale Reaktion auf Angst ist, das eigene Zugehörigk­eitsgefühl zu verstärken. Bei manchen ist das dann halt dieser Rückzug in eine bestimmte Gruppierun­g oder auf eine bestimmte Sicht: Hier gehöre ich dazu, hier fühle ich mich zu Hause. Es ist aber interessan­terweise nicht nur die Mehrheitsg­esellschaf­t, die so reagiert, sondern auch die Zuwanderer. Ist dieses Abschotten sinnvoll? Wir werden zunehmend Kinder und Erwachsene brauchen, die mit einer diversen Gesellscha­ft kompetent umgehen können. Sinnvoll wäre es, Kinder zu ermutigen, mit Menschen anderer Kulturen, Sprachen und Hintergrün­de kommunizie­ren zu lernen. Versagt die überfürsor­gliche Elterngene­ration in dieser Hinsicht? Ich bin eine Gegnerin des modernen Elternbash­ings. Eltern sind zunehmend bereit, profession­elle Unterstütz­ung zu holen, wenn sie überforder­t sind. Sie stehen vor großen Herausford­erungen, was sie ihren Kindern an Werten mitgeben können, um in dieser sich so rasch wandelnden Zeit gut zurechtzuk­ommen. Und das machen viele Eltern auch ganz großartig.

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Reuters Eltern sich ganz besonders um sie kümmern wollen.
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Momentan gibt es ja generell eine große Unsicherhe­it in der Gesellscha­ft.

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