»Der Mensch braucht Geschichte als Haus«
Ein Schock war der Grabungsabbruch in Ephesos für die österreichische Archäologin Sabine Ladstätter, doch die viele Solidarität aus der Türkei stimmt sie zuversichtlich. Der Mensch habe ein großes Bedürfnis nach historischer und kultureller Verortung, ist
Der seit 120 Jahren gepflegte wichtigste Grabungsort der österreichischen Archäologie ist zum Opfer politischer Spannungen geworden: Vor einer Woche hat das türkische Kulturministerium Ihrem Team in Ephesos befohlen, die Arbeit abzubrechen. Welche Sorgen haben Sie seitdem umgetrieben? Sabine Ladstätter: Wenn ich ein Jahr nicht in Ephesos bin, ist das traurig, aber es geht nicht an meine Existenz. Ich bin aber ein unheimlich verantwortungsbewusster Mensch, mein erster Gedanke war: Das kann man einfach nicht machen. Was werden die Nachwuchsforscher und Dissertanten tun? Was passiert mit den ungeschützten Funden, wenn wir sie vor dem Winter nicht verpacken können? Als Archäologin hat man eine Beziehung zu Steinen, Scherben. Ich habe dann auch an meine Vorgänger gedacht, die auch unter schwierigsten Umständen, rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg, so gekämpft haben für dieses Unternehmen. Auch ihnen bin ich verpflichtet. Ist die Sorge inzwischen kleiner geworden? Überrascht haben mich die unheimlich positiven Reaktionen aus der Türkei. Der türkische Archäologenverband hat protestiert, auch der Tourismusverband der Region. Diese Leute, mit denen ich sonst nichts zu tun hatte, sind von sich aus aufgestanden und haben gesagt: Die tun so viel für diese Region, warum werden sie für Politik bestraft? Ich bin wirklich optimistisch. Meine Hoffnung, dass wir Ende des Jahres wieder eine Grabungslizenz bekommen, ist viel größer als vor einer Woche. Auch unsere großen türkischen Sponsoren haben sich schon solidarisch erklärt und gesagt, dass sie ihren Einfluss geltend machen werden. Am Freitag habe ich auch ein positives Mail der amerikanischen Sponsoren bekommen. In Ettore Scolas Film „La famiglia“erlebt man die Geschichte dreier Generationen in immer derselben Wohnung, die Zeiten verfließen, man geht durch eine Tür und ist Jahre weiter, Jahre zurück. Ist es diese gleichzeitige Präsenz vieler Zeiten, die Orte wie Ephesos so wertvoll macht? Ja, und es beantwortet die Frage nach dem Sinn eines solchen Langzeitprojekts. Wir erforschen die gesamte Region, durch alle Zeiten, vom ersten Auftreten des Menschen bis in die Gegenwart. Sie war immer eine Kulturkontaktzone zwischen der Ägäis und Anatolien. Gerade jetzt diskutieren wir wieder die geostrategische Lage Anatoliens und seiner Westküste, die Migrationsströme zu den griechischen Inseln. Das hatten wir auch schon in der Antike, die enge Verbindung der Insel Samos zu Ephesos zum Beispiel. Daraus ergeben sich auch ganz moderne Fragen an den Ort. Ephesos ist ein Lebensprojekt für Sie . . . Dabei gehöre ich zu den wenigen österreichischen Archäologen, die nicht schon als Studenten in Ephesos waren! Ich musste nämlich immer nebenbei arbeiten, um mir mein Studium zu finanzieren. Das war bei meinen Eltern eine bewusste Entscheidung, damit ich mich fokussiere, nicht trödle . . . Eine gute Entscheidung? Ja, ich würde es wohl auch so machen. Es hat mich trainiert, Dinge abzuschließen, auf Termine hinzuarbeiten, ich konnte mir keine faulen Phasen gönnen. Nur dass ich dadurch nicht reisen konnte, bereue ich. Später im Leben hat man meist kaum noch die Gelegenheit. Ab wann wollten Sie Archäologin werden? Im Kindergarten schon, mit fünf oder sechs Jahren. Es hängt wohl auch mit dem Magdalensberg zusammen, der
1968
Geboren in Klagenfurt
1986 bis 1997
Studium der Klass. Archäologie und Alten Geschichte und Altertumskunde an der Uni Graz, danach Doktoratsstudium in Wien.
1995 bis 1997
Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ephesos-Projekts, seit 1996 jährliche Teilnahme an den Grabungen, 1996 bis 2002 sowie 2004 leitete sie die Grabung im Hanghaus 2 in Ephesos.
2001 bis 2007
Stv. geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kulturgeschichte der Antike der ÖAW.
Seit 2009
Direktorin des 1898 gegründeten Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI).
Seit 2010
Leiterin der Grabung Ephesos. nicht so weit weg von meinem Kärntner Zuhause war. Ich habe mir dann von meinen Eltern jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag Bücher über Archäologie gewünscht. Mitte der Neunziger forschten Sie erstmals in Ephesos. Was hat sich seitdem verändert? Wahnsinnig viel. Aus einem österreichischen Unternehmen ist eine internationale Plattform geworden, wo Menschen aus ganz Europa eigene Projekte unter unserer Lizenz durchführen. Wir haben auch viele türkische Wissenschaftler. Es gibt ganz neue Techniken, gerade das Laserscanning ist revolutionär. Anfangs habe ich mit Maßband, Latte und Loten gearbeitet, heute scannen wir die Orte und zeichnen dann händisch Details ein. Wir können ja oft naturwissenschaftliche Methoden, die nicht für uns entwickelt wurden, nutzen. Sehen Sie beim Umgang der Geisteswissenschaften damit auch Schattenseiten? Es gibt Risken. Meines Erachtens steht die Archäologie an einem Scheideweg. Wir müssen uns klar werden, dass wir eine geisteswissenschaftliche Disziplin sind, und kulturwissenschaftliche Fragen stellen. Naturwissenschaftliche Methoden sind Hilfsmittel, aber komplexe Vorgänge der Menschheitsgeschichte wie Migration oder Identität kann man nicht mit einfach anmutenden Analysen erklären. Die Methoden sind auch gar nicht einfach, aber wir Geisteswissenschaftler glauben das, weil wir nur die Ergebnisse sehen. Der naive Umgang mit naturwissenschaftlichen Daten ist also das Problem? Ja, die Analysen wirken so klar, sie können dazu verführen, komplexe Situationen zu einfach zu erklären. Identität zum Beispiel ergibt sich nicht nur aus der DNA, sondern aus vielen kulturellen Faktoren. Viele erleben Europa heute als erodierenden Kontinent. Glauben Sie, dass die Wertschätzung der Gegenwart, das Gefühl, Zukunft zu haben, und die Wertschätzung der Vergangenheit miteinander zu tun haben, dass sie einander zum Teil bedingen? Davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube, dass der Mensch die Verortung braucht. Er braucht eine individuelle Verortung, die hat er in der Familie, früheren Generationen. Und er braucht eine kollektive Verortung. Kollektive Verortung aber ist Kultur, Geschichte. Wenn sie das nicht haben, fühlen sich die Menschen wirklich entwurzelt. Derzeit habe ich aber den Eindruck, dass ein Nachdenken in Europa einsetzt. Eine Suche nach neuen, Zeiten übergreifenden Häusern, großen Erzählungen, die die ausrangierten nationalen ersetzen? Das Bild des Hauses, das man braucht, finde ich gut. Deshalb halte ich auch ein gewisses Maß an Daten für wichtig, die Vorstellung von zeitlichen Abläufen. Sonst schwimmt alles. Geschichte muss eine Struktur haben, innerhalb dieser Struktur kann man Geschichten erzählen. Und natürlich kann nicht jeder das gleiche Detailwissen haben – aber wenn jemand „Mittelalter“sagt, sollte etwas aufpoppen, ein Bild entstehen. Wie sollte das von Ihnen erwähnte „Nachdenken“in Europa aussehen? Wenn in der Politik vom christlichen Abendland oder kulturellen Erbe die Rede ist, möchte ich gern nachfragen: Was meinen Sie mit Erbe? Weil es zugleich unheimlich schwierig ist, für die Erhaltung und Erforschung von Kulturerbe die Mittel zu bekommen. Wir müssen definieren: Was genau wollen wir verteidigen? Und wie kommunizieren wir das an Leute, die das Wissen nicht haben? Auch die Archäologie hat viel versäumt, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Relevanz zu erklären. . . . mit welchen Eigenschaften man von der Archäologie besser die Finger lassen sollte? Man muss eine Affinität zum einfachen Leben haben, in den Grabungscamps kann es sehr entbehrungsreich sein. Wer reich werden will, ist auch am falschen Platz, das wird man hier nicht. Dafür hat man einen der schönsten Berufe, die man haben kann! Ungenauigkeit ist auch fatal. Oder wenn man Probleme hat, mit Menschen unterschiedlichster Kulturen umzugehen. . . . welchen archäologischen Sensationsfund Sie gern noch erleben würden? Hm. Wenn jemand das Grab von Alexander dem Großen finden würde, wäre das schon was sehr Schönes! . . . ob Sie bei Ihrer Arbeit in Ephesos je das Gefühl hatten, als Frau in Leitungsposition nicht akzeptiert zu werden? Gar nicht – und das gilt auch für meine stellvertretende Leiterin. Das war wirklich nie ein Problem. Man kann nicht aus der Geschichte lernen, aber man kann mit ihrer Hilfe das eigene Tun reflektieren. Welche Funde haben Sie im Lauf Ihres Lebens besonders beglückt? Oft waren unscheinbarste Dinge sensationell. Ich hatte die Hypothese, dass der Grabungsplatz, an dem wir arbeiten, über die Antike, also über das 7. Jahrhundert hinaus besiedelt war. Als ich letztes Jahr im Fundmaterial das 8., 9. Jahrhundert entdeckt habe, war das für mich ein Moment äußerster Zufriedenheit. Woran arbeiten Sie gerade? Mein Schwerpunkt ist ja die Verwandlung der Stadt von einer antiken, griechisch-byzantinischen hin zu einer neuzeitlichen türkischen Metropole. Welche Traditionen bleiben, wo gibt es Brüche, und wie kann man das erklären? Im Bauhandwerk zum Beispiel zeigen sich ganz starke Traditionen über die Antike hinaus, da sind offenbar Handwerker über die türkische Eroberung 1304 hinaus geblieben. Dafür gibt es ganz starke Brüche in der Ernährung – es gibt gar kein Schweinefleisch mehr. Insgesamt sehen wir aber eine erstaunliche Kontinuität. Vieles spricht dafür, dass die alte Bevölkerung in der neuen aufgegangen ist, mit vielen Mischehen und Konversionen, dass eine Mischkultur entstanden ist. Wir sind gerade mittendrin in diesen Fragen, und ich würde sie gern fertig erforschen – soweit man so etwas überhaupt kann. Haben Sie noch einen beruflichen Traum? Dass ich meine Forschungsprojekte, die jetzt mitten im Laufen sind, mustergültig abschließen, meine Bücher zu Ephesos von der Antike bis in die Neuzeit als Vermächtnis an die Nachwelt abliefern kann. Dann könnte ich mich mit gutem Gewissen verabschieden.