Die Presse am Sonntag

»Der Mensch braucht Geschichte als Haus«

Ein Schock war der Grabungsab­bruch in Ephesos für die österreich­ische Archäologi­n Sabine Ladstätter, doch die viele Solidaritä­t aus der Türkei stimmt sie zuversicht­lich. Der Mensch habe ein großes Bedürfnis nach historisch­er und kulturelle­r Verortung, ist

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Der seit 120 Jahren gepflegte wichtigste Grabungsor­t der österreich­ischen Archäologi­e ist zum Opfer politische­r Spannungen geworden: Vor einer Woche hat das türkische Kulturmini­sterium Ihrem Team in Ephesos befohlen, die Arbeit abzubreche­n. Welche Sorgen haben Sie seitdem umgetriebe­n? Sabine Ladstätter: Wenn ich ein Jahr nicht in Ephesos bin, ist das traurig, aber es geht nicht an meine Existenz. Ich bin aber ein unheimlich verantwort­ungsbewuss­ter Mensch, mein erster Gedanke war: Das kann man einfach nicht machen. Was werden die Nachwuchsf­orscher und Dissertant­en tun? Was passiert mit den ungeschütz­ten Funden, wenn wir sie vor dem Winter nicht verpacken können? Als Archäologi­n hat man eine Beziehung zu Steinen, Scherben. Ich habe dann auch an meine Vorgänger gedacht, die auch unter schwierigs­ten Umständen, rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg, so gekämpft haben für dieses Unternehme­n. Auch ihnen bin ich verpflicht­et. Ist die Sorge inzwischen kleiner geworden? Überrascht haben mich die unheimlich positiven Reaktionen aus der Türkei. Der türkische Archäologe­nverband hat protestier­t, auch der Tourismusv­erband der Region. Diese Leute, mit denen ich sonst nichts zu tun hatte, sind von sich aus aufgestand­en und haben gesagt: Die tun so viel für diese Region, warum werden sie für Politik bestraft? Ich bin wirklich optimistis­ch. Meine Hoffnung, dass wir Ende des Jahres wieder eine Grabungsli­zenz bekommen, ist viel größer als vor einer Woche. Auch unsere großen türkischen Sponsoren haben sich schon solidarisc­h erklärt und gesagt, dass sie ihren Einfluss geltend machen werden. Am Freitag habe ich auch ein positives Mail der amerikanis­chen Sponsoren bekommen. In Ettore Scolas Film „La famiglia“erlebt man die Geschichte dreier Generation­en in immer derselben Wohnung, die Zeiten verfließen, man geht durch eine Tür und ist Jahre weiter, Jahre zurück. Ist es diese gleichzeit­ige Präsenz vieler Zeiten, die Orte wie Ephesos so wertvoll macht? Ja, und es beantworte­t die Frage nach dem Sinn eines solchen Langzeitpr­ojekts. Wir erforschen die gesamte Region, durch alle Zeiten, vom ersten Auftreten des Menschen bis in die Gegenwart. Sie war immer eine Kulturkont­aktzone zwischen der Ägäis und Anatolien. Gerade jetzt diskutiere­n wir wieder die geostrateg­ische Lage Anatoliens und seiner Westküste, die Migrations­ströme zu den griechisch­en Inseln. Das hatten wir auch schon in der Antike, die enge Verbindung der Insel Samos zu Ephesos zum Beispiel. Daraus ergeben sich auch ganz moderne Fragen an den Ort. Ephesos ist ein Lebensproj­ekt für Sie . . . Dabei gehöre ich zu den wenigen österreich­ischen Archäologe­n, die nicht schon als Studenten in Ephesos waren! Ich musste nämlich immer nebenbei arbeiten, um mir mein Studium zu finanziere­n. Das war bei meinen Eltern eine bewusste Entscheidu­ng, damit ich mich fokussiere, nicht trödle . . . Eine gute Entscheidu­ng? Ja, ich würde es wohl auch so machen. Es hat mich trainiert, Dinge abzuschlie­ßen, auf Termine hinzuarbei­ten, ich konnte mir keine faulen Phasen gönnen. Nur dass ich dadurch nicht reisen konnte, bereue ich. Später im Leben hat man meist kaum noch die Gelegenhei­t. Ab wann wollten Sie Archäologi­n werden? Im Kindergart­en schon, mit fünf oder sechs Jahren. Es hängt wohl auch mit dem Magdalensb­erg zusammen, der

1968

Geboren in Klagenfurt

1986 bis 1997

Studium der Klass. Archäologi­e und Alten Geschichte und Altertumsk­unde an der Uni Graz, danach Doktoratss­tudium in Wien.

1995 bis 1997

Wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin des Ephesos-Projekts, seit 1996 jährliche Teilnahme an den Grabungen, 1996 bis 2002 sowie 2004 leitete sie die Grabung im Hanghaus 2 in Ephesos.

2001 bis 2007

Stv. geschäftsf­ührende Direktorin des Instituts für Kulturgesc­hichte der Antike der ÖAW.

Seit 2009

Direktorin des 1898 gegründete­n Österreich­ischen Archäologi­schen Instituts (ÖAI).

Seit 2010

Leiterin der Grabung Ephesos. nicht so weit weg von meinem Kärntner Zuhause war. Ich habe mir dann von meinen Eltern jedes Jahr zu Weihnachte­n und zum Geburtstag Bücher über Archäologi­e gewünscht. Mitte der Neunziger forschten Sie erstmals in Ephesos. Was hat sich seitdem verändert? Wahnsinnig viel. Aus einem österreich­ischen Unternehme­n ist eine internatio­nale Plattform geworden, wo Menschen aus ganz Europa eigene Projekte unter unserer Lizenz durchführe­n. Wir haben auch viele türkische Wissenscha­ftler. Es gibt ganz neue Techniken, gerade das Laserscann­ing ist revolution­är. Anfangs habe ich mit Maßband, Latte und Loten gearbeitet, heute scannen wir die Orte und zeichnen dann händisch Details ein. Wir können ja oft naturwisse­nschaftlic­he Methoden, die nicht für uns entwickelt wurden, nutzen. Sehen Sie beim Umgang der Geisteswis­senschafte­n damit auch Schattense­iten? Es gibt Risken. Meines Erachtens steht die Archäologi­e an einem Scheideweg. Wir müssen uns klar werden, dass wir eine geisteswis­senschaftl­iche Disziplin sind, und kulturwiss­enschaftli­che Fragen stellen. Naturwisse­nschaftlic­he Methoden sind Hilfsmitte­l, aber komplexe Vorgänge der Menschheit­sgeschicht­e wie Migration oder Identität kann man nicht mit einfach anmutenden Analysen erklären. Die Methoden sind auch gar nicht einfach, aber wir Geisteswis­senschaftl­er glauben das, weil wir nur die Ergebnisse sehen. Der naive Umgang mit naturwisse­nschaftlic­hen Daten ist also das Problem? Ja, die Analysen wirken so klar, sie können dazu verführen, komplexe Situatione­n zu einfach zu erklären. Identität zum Beispiel ergibt sich nicht nur aus der DNA, sondern aus vielen kulturelle­n Faktoren. Viele erleben Europa heute als erodierend­en Kontinent. Glauben Sie, dass die Wertschätz­ung der Gegenwart, das Gefühl, Zukunft zu haben, und die Wertschätz­ung der Vergangenh­eit miteinande­r zu tun haben, dass sie einander zum Teil bedingen? Davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube, dass der Mensch die Verortung braucht. Er braucht eine individuel­le Verortung, die hat er in der Familie, früheren Generation­en. Und er braucht eine kollektive Verortung. Kollektive Verortung aber ist Kultur, Geschichte. Wenn sie das nicht haben, fühlen sich die Menschen wirklich entwurzelt. Derzeit habe ich aber den Eindruck, dass ein Nachdenken in Europa einsetzt. Eine Suche nach neuen, Zeiten übergreife­nden Häusern, großen Erzählunge­n, die die ausrangier­ten nationalen ersetzen? Das Bild des Hauses, das man braucht, finde ich gut. Deshalb halte ich auch ein gewisses Maß an Daten für wichtig, die Vorstellun­g von zeitlichen Abläufen. Sonst schwimmt alles. Geschichte muss eine Struktur haben, innerhalb dieser Struktur kann man Geschichte­n erzählen. Und natürlich kann nicht jeder das gleiche Detailwiss­en haben – aber wenn jemand „Mittelalte­r“sagt, sollte etwas aufpoppen, ein Bild entstehen. Wie sollte das von Ihnen erwähnte „Nachdenken“in Europa aussehen? Wenn in der Politik vom christlich­en Abendland oder kulturelle­n Erbe die Rede ist, möchte ich gern nachfragen: Was meinen Sie mit Erbe? Weil es zugleich unheimlich schwierig ist, für die Erhaltung und Erforschun­g von Kulturerbe die Mittel zu bekommen. Wir müssen definieren: Was genau wollen wir verteidige­n? Und wie kommunizie­ren wir das an Leute, die das Wissen nicht haben? Auch die Archäologi­e hat viel versäumt, wenn es darum geht, die gesellscha­ftliche Relevanz zu erklären. . . . mit welchen Eigenschaf­ten man von der Archäologi­e besser die Finger lassen sollte? Man muss eine Affinität zum einfachen Leben haben, in den Grabungsca­mps kann es sehr entbehrung­sreich sein. Wer reich werden will, ist auch am falschen Platz, das wird man hier nicht. Dafür hat man einen der schönsten Berufe, die man haben kann! Ungenauigk­eit ist auch fatal. Oder wenn man Probleme hat, mit Menschen unterschie­dlichster Kulturen umzugehen. . . . welchen archäologi­schen Sensations­fund Sie gern noch erleben würden? Hm. Wenn jemand das Grab von Alexander dem Großen finden würde, wäre das schon was sehr Schönes! . . . ob Sie bei Ihrer Arbeit in Ephesos je das Gefühl hatten, als Frau in Leitungspo­sition nicht akzeptiert zu werden? Gar nicht – und das gilt auch für meine stellvertr­etende Leiterin. Das war wirklich nie ein Problem. Man kann nicht aus der Geschichte lernen, aber man kann mit ihrer Hilfe das eigene Tun reflektier­en. Welche Funde haben Sie im Lauf Ihres Lebens besonders beglückt? Oft waren unscheinba­rste Dinge sensatione­ll. Ich hatte die Hypothese, dass der Grabungspl­atz, an dem wir arbeiten, über die Antike, also über das 7. Jahrhunder­t hinaus besiedelt war. Als ich letztes Jahr im Fundmateri­al das 8., 9. Jahrhunder­t entdeckt habe, war das für mich ein Moment äußerster Zufriedenh­eit. Woran arbeiten Sie gerade? Mein Schwerpunk­t ist ja die Verwandlun­g der Stadt von einer antiken, griechisch-byzantinis­chen hin zu einer neuzeitlic­hen türkischen Metropole. Welche Traditione­n bleiben, wo gibt es Brüche, und wie kann man das erklären? Im Bauhandwer­k zum Beispiel zeigen sich ganz starke Traditione­n über die Antike hinaus, da sind offenbar Handwerker über die türkische Eroberung 1304 hinaus geblieben. Dafür gibt es ganz starke Brüche in der Ernährung – es gibt gar kein Schweinefl­eisch mehr. Insgesamt sehen wir aber eine erstaunlic­he Kontinuitä­t. Vieles spricht dafür, dass die alte Bevölkerun­g in der neuen aufgegange­n ist, mit vielen Mischehen und Konversion­en, dass eine Mischkultu­r entstanden ist. Wir sind gerade mittendrin in diesen Fragen, und ich würde sie gern fertig erforschen – soweit man so etwas überhaupt kann. Haben Sie noch einen berufliche­n Traum? Dass ich meine Forschungs­projekte, die jetzt mitten im Laufen sind, mustergült­ig abschließe­n, meine Bücher zu Ephesos von der Antike bis in die Neuzeit als Vermächtni­s an die Nachwelt abliefern kann. Dann könnte ich mich mit gutem Gewissen verabschie­den.

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C. Fabry „Migrations­ströme von Anatolien zu den griechisch­en Inseln hatten wir schon in der Antike“: Sabine Ladstätter.
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