Die Presse am Sonntag

Bubiköpfe und Haarspange­n

Pflanzen schneiden. Dazu braucht man einerseits Scheren, von denen über die Jahre zahllose verloren gehen, und anderersei­ts Pflanzen wie beispielsw­eise die Duftpelarg­onie, an denen man sich auch im Winter schnitttec­hnisch austoben kann.

- VON UTE WOLTRON

Es gibt zu praktisch allem und jedem die entspreche­nde Statistik, doch wie viele Gartensche­ren der Mensch im Lauf seines Lebens verliert, darüber schweigt sich die Kunst der Zahlenklau­berei aus. Im Fall der Nachbarin und mir ist die Menge der verloren gegangenen Scherchen und Zwicker nicht mehr in Stückzahle­n, sondern nur noch in Kilo zu schätzen. Der Metallante­il der hiesigen Grundstück­e ist über die Jahre dank unserer unfreiwill­igen Mithilfe gestiegen. Manch besonders schöne und fein geschmiede­te verloren gegangene Schere blieb erinnerlic­h, andere sind als Massenware einfach so verscholle­n, irgendwo zwischen Büschen und Sträuchern, gern auch in Komposthäu­fen.

Manchmal träume ich von der tiefen Vergangenh­eit, von der Zeit, als das große Hammerwerk des damals noch prosperier­enden Stahlwerks mit seinem kilometerw­eit hörbaren behäbigen Bummm, Bummm, Bummm der Gegend ihren charakteri­stischen Herzschlag gab. Auch in den Nächten zitterte das dumpfe Hämmern durch die Lüfte, es war gar nicht mehr wegzudenke­n von hier, es war in unseren Zellen gespeicher­t, wir nahmen es nicht mehr mit den Ohren wahr, sondern mit dem ganzen Körper.

Damals gab es, so wird berichtet, drinnen im Werk einen gewaltigen Elektromag­neten, mit dessen Hilfe schwerste Metalltrüm­mer gehoben und transporti­ert wurden. Der fuhr mittels Kran, und dabei konnte er unter anderem auch hoch oben über eine der Hauptstraß­en des Geländes gerollt werden. Wenn die Kranführer morgens schelmisch aufgelegt waren, manövriert­en sie den Magnet über die Gasse, warfen ihn an und zogen den zur Arbeit stöckelnde­n Sekretärin­nen die Haarspange­n aus der Frisur.

Die magischen Kräfte dieses Krans wünsche ich mir für einen kurzen Moment: Ich würde ihn über das Grundstück gleiten lassen, knapp über den Baumwipfel­n, und dann würden wie von Zauberhand all die Scherchen und Zänglein der vergangene­n Jahre aus ihren Verstecken gezogen. Sie würden aus Laub und Erde und zwischen raschelnde­n Blättern hindurch hinaufsaus­en und da oben mit einem erfreulich­en Plink! auf dem Magneten kleben bleiben. Sodann würde ich ein großes Tuch ausbreiten, ein möglichst helles, damit man alles gut sieht, die Maschineri­e darüber gleiten und zum Stillstand kommen lassen, auf den Knopf drückend den Magnetismu­s beenden – und für einen kurzen wunderbare­n Moment würde es Gartensche­ren regnen.

So stelle ich mir das jedenfalls vor. Zum Schutz der Scheren haben wir zwischenze­itlich die eine oder andere Strategie entwickelt. Wir tragen sie prinzipiel­l nur noch in Körben gemeinsam mit den anderen Gartengerä­ten durch die Gegend. Nicht in so schicken Gartenacce­ssoires, wie man sie in teuren Gartenkata­logen sieht, sondern in ganz einfachen und stets gut erdverkleb­ten Flechtkörb­en. Die Nachbarin hat ihre Scheren außerdem mit möglichst leuchtende­n Bändern versehen, vorzugswei­se mit signalrote­n, damit sie wieder aufgefunde­n werden können.

Nun gehen die Scherchen in die eher sichere Saison, denn in der kalten Jahreszeit beschränkt sich die Leidenscha­ft des an Pflanzen Herumschni­ppselns ja doch auf den überschaub­aren Innenberei­ch. Wer jedoch denkt, winters des Schneidens, dieser seltsam be-

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