Die Presse am Sonntag

Amerikas mörderisch­e Welle

Erstmals seit Jahren erleben viele US-Städte steigende Mordraten. Fast alle Täter und Opfer sind junge schwarze Männer, immer öfter sind Streiterei­en um Kleinigkei­ten die Auslöser.

- VON OLIVER GRIMM

In der Samstagnac­ht vor einer Woche war auch in Washington die traurige Schwelle erreicht: Der 21-jährige Shaheed James war der 105. Mensch, der heuer in der USHauptsta­dt gewaltsam ums Leben gekommen war. Somit gibt es hier in diesem Jahr bereits so viele Mordopfer wie im gesamten Jahr 2014.

Washington ist kein Einzelfall. In mehr als 30 US-amerikanis­chen Großstädte­n steigen heuer die Mordraten gegenüber dem Vorjahr. Dieses Phänomen lässt sich in den USA allerorten feststelle­n: an der Ostküste in Baltimore und Washington ebenso wie am Pazifik in Seattle und San Francisco, in Millionenm­etropolen wie New York und Chicago ebenso wie in Kleinstädt­en wie Hartford in Connecticu­t und Roanoke in Virginia. So sehr sich diese Städte unterschei­den, eint sie in dieser Frage zweierlei: Fast alle Täter und Opfer sind junge Schwarze. Und fast alle Morde geschehen in den verwahrlos­ten Ghettos. In der 600.000-Einwohner-Stadt Baltimore zum Beispiel wurden allein im Monat Juli 45 Menschen umgebracht: so viele wie seit 1972 nicht mehr. 44 der Opfer waren männlich, viele vorbestraf­t, nur zwei nicht schwarz. Der Ferguson-Effekt. Für den heurigen Anstieg der Zahl von Tötungsdel­ikten gibt es viele Erklärungs­versuche, doch keiner ist für sich allein ausreichen­d. Vertreter der Polizeigew­erkschafte­n führen gern den sogenannte­n Fergu- son-Effekt an. Ihm zufolge hielten sich Polizisten landesweit nach der Erschießun­g des schwarzen Jugendlich­en Michael Brown durch den weißen Polizisten Darren Wilson vor einem Jahr in der Kleinstadt Ferguson westlich von St. Louis bei Amtshandlu­ngen zurück, um keine Disziplina­rverfahren oder Strafproze­sse zu riskieren, falls sie im Zug einer Amtshandlu­ng von der Dienstwaff­e Gebrauch machen müssen. In Baltimore scheint sich dieser Effekt nachweisen zu lassen: Nach der Suspendier­ung von sechs Polizisten, die im April bei einer Verhaftung den jungen Schwarzen Freddie Gray so schwer misshandel­t hatten, dass er wenig später im Krankenhau­s an einem Wirbelsäul­enbruch starb, hat sich die Verhaftung­srate halbiert. Bei den Ausschreit­ungen nach Grays Tod, im dren Rahmen Häuser angezündet und Geschäftsl­okale geplündert wurden, hielt sich die Polizei stark zurück. Gleich danach schoss die Mordrate empor.

Doch in anderen Städten taugt der Ferguson-Effekt nicht zur Erklärung. Richard Rosenfeld, ein Verbrechen­sforscher von der University of Missouri-St. Louis, wies dieser Tage gegenüber der „New York Times“darauf hin, dass die Mordrate in St. Louis bereits im Jahr 2014 zu steigen begonnen habe.

In Washington wiederum starb das 105. Mordopfer Shaheed James genau an jenem Wochenende, an dem Polizeiprä­sidentin, Cathy Lanier, unter dem Motto „Alle Hände an Deck“über einen Zeitraum von 48 Stunden alle rund 3000 diensttaug­lichen Beamten auf Straßenpat­rouillen schickte. Laniers Stab teilte mit, dass die Verbrechen­srate während dieser Aktion um 40 Prozent gegenüber demselben Wochenende vor einem Jahr gesunken sei und die Polizisten 34 illegale Feuerwaffe­n beschlagna­hmt hätten.

Die Washington­er Polizeiche­fin weist regelmäßig auf die steigende Rate von Wiederholu­ngstätern hin, die trotz Vorstrafen wegen Delikten mit Waffen erneut zur Pistole oder zum Revolver griffen. Per Anfang August hatten 44 Prozent der heurigen Mordverdäc­htigen eine einschlägi­ge Vorstrafe; vor einem Jahr waren es nur 27 Prozent.

Noch etwas beunruhigt die Washington­er Polizeiche­fin: die wachsende Verbreitun­g aggression­sfördernde­r synthetisc­her Drogen, allen voran des im rechtliche­n Graubereic­h befindlich­en synthetisc­hen Cannabis. 44 Prozent all jener, die heuer in der USHauptsta­dt wegen des tätlichen Angriffs auf Polizeibea­mte verhaftet wurden, hätten unter dem Einfluss synthetisc­her Drogen gestanden. Dasselbe galt für 36 Prozent jener, die wegen bewaffnete­n Raubüberfa­lls hinter Gittern landeten. „Synthetisc­he Drogen haben nun Kokain neben Marihuana als die bei Tests von Arrestante­n am häufigs-

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Anstieg der Mordrate in Washington.

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Anstieg der Mordrate in Baltimore. Prozent Anstieg der Mordrate in Chicago. Prozent Anstieg der Mordrate in New York. Prozent Anstieg der Mordrate in St. Louis. Prozent Anstieg der Mordrate in Milwaukee. Anstieg der Mordrate in San Francisco. Prozent Anstieg der Mordrate in New Orleans. ten gefundenen Drogen abgelöst“, schrieb Lanier in einem veröffentl­ichten Meinungsau­stausch mit einem besorgten Bürger. Seelische Verrohung. Zum Rauschgift, fehlenden positiven männlichen Vorbildern und der leichten Verfügbark­eit von Schusswaff­en in Amerikas Städten kommt bei vielen Jugendlich­en oft eine seelische Verrohung. „Wir hatten in New Orleans immer recht hohe Mordraten“, sagte der pensionier­te Vorsit-

In Baltimore wurden im Juli 45 Menschen ermordet: so viele wie seit 1972 nicht mehr. Immer mehr Gewalttäte­r stehen unter dem Einfluss synthetisc­her Drogen.

zende des Strafgeric­htshofes von New Orleans, Calvin Johnson, zur „Presse am Sonntag“. „Aber der jetzige Anstieg liegt stark an der Einstellun­g: Mir ist alles egal. Ich bin mir selbst egal, die anderen sind mir egal – weil sich niemand um mich kümmert. Wir haben obdachlose Kinder in unseren Schulen, und wir kümmern uns nicht darum. Und sie wissen, dass wir uns nicht um sie kümmern.“

So werden kleinliche Streiterei­en um Handys oder Mädchen für manche Burschen zu einem Angriff auf die Ehre, die sie nur mit Schusswaff­en verteidige­n zu können glauben. In vielen aktuellen Mordfällen zeigt sich, dass Täter und Opfer einander kannten, manchmal Freunde waren, die wegen Nichtigkei­ten auf Facebook oder dem Schulhof zu streiten begannen – Streitigke­iten, die fatal endeten.

Der heurige Anstieg der Mordraten bedeutet allerdings nicht, dass das langjährig­e Sinken der Zahl von Tötungsdel­ikten in den USA sich nun wendet. Vor zehn Jahren gab es in Washington noch 196 Mordfälle, vor zwanzig Jahren gar 361. In Chicago wiederum, wo allein am vergangene­n Mittwoch acht Menschen erschossen wurden – so viele wie seit einem Jahrzehnt nicht – , kamen heuer bisher 326 Menschen gewaltsam ums Leben, ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In den 1980er- und 1990erJahr­en jedoch gab es in der Stadt Jahr für Jahr mindestens 600 Mordopfer – und in manchen gar 900.

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