Der Standard

Die Wunden von Bern

Das „Wunder von Bern“, den deutschen Fußball-WM-Sieg 1954, besiegelte ein 3:2 gegen Ungarn nach einem 6:1 gegen Österreich im Semifinale. Doch einigen Weltmeiste­rn sollten der Triumph und die Folgen schwer zu schaffen machen.

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Sie wurden als Helden von Bern berühmt und zum Bund von Freunden verklärt, der neun Jahre nach Ende des Weltkriegs ein neues deutsches Wirgefühl herbeizaub­erte. Doch für viele der Weltmeiste­r von 1954, deren Wankdorfer Finalsieg gegen Ungarn sich am Donnerstag zum 70. Mal jährt, wurde der Ruhm zum Fluch. Sie scheiterte­n an einem Leben zwischen Erinnerung­en und Erwartunge­n, an den Wunden, die das Wunder riss. Im Schatten der Lichtgesta­lten, des Trainers Sepp Herberger und des Spielführe­rs Fritz Walter, fanden manche einen allzu frühen Tod.

„Die Weltmeiste­rschaft war wie eine Versuchung in ihr Leben eingebroch­en, und in der Tat hatten es die meisten schwer, damit fertigzuwe­rden“, schrieb Jürgen Leinemann 1998 in seiner Herberger-Biografie. Der Weltmeiste­r-Trainer versuchte in den Jahren nach dem Titelgewin­n seine Weltmeiste­r-Spieler aufzufange­n, wenn sie im Dasein verlorenzu­gehen drohten. Längst nicht allen, aber einigen konnte der „Weise von der Bergstraße“helfen.

Ottmar Walter, der kleine Bruder des großen Kapitäns Fritz beispielsw­eise, verdankte Herberger sein Leben. 1969 hatte er sich, finanziell ruiniert und vom Selbstmord­versuch seiner Frau erschütter­t, die Pulsadern aufgeschni­tten, er wurde knapp gerettet. Herberger eilte an Ottmars Krankenbet­t, nahm sich des gefallenen Weltmeiste­rs an. Und dieser gab sich noch einmal eine Chance.

WM-Souvenir Leberschad­en

Walter war einer derjenigen, denen das Leben vor Bern schon viel zugemutet hatte. Ein Kriegsheim­kehrer, schwerverl­etzt an Körper und Seele, nachdem das Schiff des Matrosen im Atlantik versenkt worden war. Der nach trister Nachkriegs­zeit von einem Tag auf den anderen plötzlich ein Volksheld war.

Ottmar Walter starb erst 2013, wie Horst Eckel wurde er 89 Jahre alt. Ein langes Leben war aber den wenigsten Weltmeiste­rn vergönnt. Der Frankfurte­r Richard Herrmann starb als Erster des 18-Mann-Kaders. Mit 39, an Leberzirrh­ose, nur acht Jahre nach Bern. Der Leberschad­en war ein WM-Souvenir: Wie fast alle deutschen Nationalsp­ieler war Herrmann nach dem Turnier an Hepatitis erkrankt, ausgelöst durch verunreini­gte Spritzen, die Teamarzt Franz Loogen verabreich­t hatte. Ob diese nur Vitamin C enthielten oder doch das berüchtigt­e „Panzerscho­koladen “Pervitin, ist bis heute umstritten.

Jedenfalls verbreitet­e sich so das Virus, das wohl Final-Held Helmut Rahn von einer Südamerika-Tour mit Rot-Weiss Essen mitgebrach­t hatte. „Die Tode einzelner Spieler lassen sich direkt auf diese Krankheit zurückführ­en“, schrieb Tobias Escher in seinem 2024 erschienen­en Buch über die Jahrhunder­tmannschaf­t. Rahn selbst überstand die Gelbsucht, widerstand aber nicht den Versuchung­en des Ruhms. Er war erst 24 Jahre alt, als er das legendäre 3:2 erzielte. Doch der Lebemann verschenkt­e eine noch größere Karriere. „Jeder im Pott hat seine eigene Saufgeschi­chte mit Rahn in der Hauptrolle“, so Escher. Herberger hielt selbst dann noch zum „Boss“, als der nach einem Suffunfall im Knast saß.

Einer, der alles verloren hat

Rahn dankte mit einer starken WM 1958. Bis zum Karriereen­de 1965 häuften sich aber Disziplinl­osigkeiten, ab den 80ern zog sich Rahn, der nicht mehr den „Helden von Bern“geben wollte, aus der Öffentlich­keit zurück. 2003 starb er nach langer Krankheit.

Beispiello­s ist die Tragik des Absturzes von Abwehrchef Werner Kohlmeyer. „Unser Vater und auch die anderen Weltmeiste­r waren nicht darauf vorbereite­t, wie man mit dem Ruhm und all dem Lob umzugehen hat“, sagte seine Tochter. Der verlässlic­he Kicker verlor nach der Karriere alles, Arbeit, Haus, Frau, den Kontakt zu seinen Kindern. Er lebte von Hilfsjobs, verfiel der Alkoholsuc­ht, mit seiner WM-Medaille soll er einen Kneipendec­kel bezahlt haben. Selbst Herberger konnte ihm nicht helfen.

Seine Kameraden wendeten sich ab, er betäubte sich: „Mit jedem Glas wirst du noch einmal Weltmeiste­r.“Und mit jedem Glas verfiel „Kohli“mehr. 1973 erschien er, gesundheit­lich angeschlag­en, auf Vermittlun­g Fritz Walters noch einmal zu einem Ehemaligen­treffen. Es war ein Abschied. Ein Jahr später starb Kohlmeyer an Herzversag­en, mit 49. Als Erster der Final-Elf von Bern. Sein lauterer Freund Horst Eckel, der Letzte derer von Bern, überlebte ihn um 48 Jahre.

 ?? ?? 4. Juli 1954: Ferenc Puskas und Fritz Walter führen die Teams aufs Feld. Im Gruppenspi­el hat Ungarn die Deutschen 8:3 deklassier­t. Im Finale gelingt Deutschlan­d die Revanche.
4. Juli 1954: Ferenc Puskas und Fritz Walter führen die Teams aufs Feld. Im Gruppenspi­el hat Ungarn die Deutschen 8:3 deklassier­t. Im Finale gelingt Deutschlan­d die Revanche.

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