EU-Zauderer stärken Rechte
In nur drei Monaten sind Europawahlen. Liegen die Wahlforscher nicht ganz daneben, zeichnet sich in den 27 Mitgliedsstaaten eine klare Tendenz ab: Die rechten und extrem rechten Parteien könnten deutlich zulegen. Weniger bedeutend gewinnen da und dort auch linke EU-Skeptiker. Die gemäßigten Parteien der Mitte, die sich als „proeuropäisch“verstehen und das gemeinsame Europa über Jahrzehnte mühsam aufgebaut haben, verlieren Wählerinnen und Wähler – alle vier, also die Christdemokraten der EVP, die Sozialdemokraten der S&D-Fraktion, die Liberalen und die Grünen.
Das schlägt sich laut Umfragen stark in den großen Staaten nieder, wo fast die Hälfte der EU-Bevölkerung lebt, wo also viele Mandate im EU-Parlament vergeben werden: in Deutschland, Frankreich und Italien. Die extrem rechte AfD könnte sogar auf Platz zwei landen, noch vor der SPD. Marine Le Pen gibt sich neuerdings moderat, sie möchte 2027 Frankreichs Staatspräsidentin werden. Ihre Bewegung könnte das gute EUErgebnis von 2019 noch übertreffen. Sie führt die extrem rechte ID-Fraktion an, der die FPÖ angehört.
Italien ist ein Sonderfall. Die postfaschistischen „Fratelli“Giorgia Melonis könnten die Lega von Matteo Salvini halbieren. Sie bemüht sich um konstruktive EU-Politik, strebt die Führung der Fraktion der Konservativen (EKR) an. W ie sieht die Gegenrechnung aus? Christ- und Sozialdemokraten halten mit den Liberalen 421 von 705 Mandaten. So konnten sie eine (instabile) Dreierkoalition bilden, die die EU-Kommission Ursula von der Leyens wählte und stützte. Wenn die drei verlieren, und die Grünen dazu, könnte es eng werden bei der Wahl der nächsten Kommission, weil auch nationale Länderinteressen mitspielen.
Man sollte annehmen, dass diese vier europatragenden Parteienfamilien alarmiert sind, wie wild um Stimmen kämpfen. Fehlanzeige. Mit von der Leyen und dem weithin unbekannten EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit aus Luxemburg haben Christ- und Sozialdemokraten zwar „Spitzenkandidaten“. Andere Kapazunder wollten erst gar nicht antreten, auch bei Liberalen und Grünen, die ein Spitzentrio bzw. -duo anbieten. Das wird die Wählerschaft kaum von den Sitzen reißen.
In den Wahlmanifesten zeigen die Traditionsparteien wieder Ecken und Kanten, das ist gut: Die EVP etwa forciert die Themen Sicherheit und Wirtschaft, die Sozialdemokraten setzen mit Schmit auf ihr Leibthema Soziales. Aber das wird nicht reichen, um den antieuropäischen Populismus der Rechten zu brechen. Dazu braucht es massive positive Mobilisierung – und Einigkeit. Stattdessen wirft man einander Prügel vor die Füße. Beispiel: der EVP-Kongress. Obwohl einzige Kandidatin, wurde von der Leyen mit nur 81 Prozent Zustimmung zur Spitzenkandidatin gewählt. Vielen ist sie zu ökosozial, für die Franzosen „zu deutsch“, zu links. Die ÖVP war extra auffällig. Sie lehnte das EVP-Wahlprogramm ab, noch bevor der Parteitag begonnen hatte. Bei solchen Rivalen kann die EU-feindliche Rechte in Europa jubeln.