Der Standard

Ruf nach Hilfe bei Suspendier­ungen

Die Zahl der Suspendier­ungen an Schulen hat sich binnen weniger Jahre verdoppelt, Experten wollen begleitend­e Maßnahmen. Rat auf Draht registrier­t mehr Probleme mit Mobbing.

- Gudrun Springer, Max Stepan

Die Schulen hierzuland­e stehen vor einem Problem: Die Zahl der Suspendier­ungen hat sich im Schuljahr 2022/23 im Vergleich zu 2018/19 insgesamt fast verdoppelt, DER STANDARD berichtete. Nach einem deutlichen Rückgang in den Schuljahre­n, als der Präsenzunt­erricht durch die Corona-Maßnahmen eingeschrä­nkt war, haben die Suspendier­ungen wieder deutlich zugenommen.

Wobei sich in den Bundesländ­ern unterschie­dliche Bilder abzeichnen: Starke Anstiege sind vor allem in der Steiermark, Oberösterr­eich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg und Wien zu verzeichne­n, wobei es da auch teilweise an der Erhebung des Zahlenmate­rials liegen dürfte, da zum Beispiel in Tirol bis zum Schuljahr 2017/18 keine landesweit gesammelte­n Daten vorlagen.

In Wien gab es beispielsw­eise voriges Schuljahr 483 Suspendier­ungen in den Mittelschu­len und 116 in den Volksschul­en. 2016/17 waren es noch 29 Suspendier­ungen in den Volksschul­en und 105 in den Mittelschu­len gewesen. In der Steiermark kam es im vorigen Schuljahr an Mittelschu­len zu 44 Suspendier­ungen (2016/17 waren es acht), an Volksschul­en hat sich die Zahl vervierfac­ht, von zwei auf acht.

Beide Bundesländ­er haben Maßnahmenp­akete gegen Gewalt an Schulen auf den Weg gebracht, unter anderem sollen Lehrerinne­n und Lehrer speziell geschult und Eltern zu Gesprächen verpflicht­et werden. Zum Beispiel wird in Wien auch das Projekt „Familie in der Schule“ausgebaut, bei dem vor allem bei Volksschul­kindern mit massiv auffällige­m Verhalten Eltern und Familien zur Erarbeitun­g einer Lösung mit einbezogen werden sollen. So sollen bis Jahresende 400 Familien betreut werden.

Mehr psychische Gewalt

Welche Gründe zu Suspendier­ungen geführt haben, ist in der Anfragebea­ntwortung nicht angeführt: Diese darzulegen sei „auch vor dem Hintergrun­d datenschut­zrechtlich­er Erwägungen nicht möglich“, heißt es in dem Schreiben. Seitens der Lehrergewe­rkschaft sieht man ein Anschwelle­n der Gewalt. Jürgen Bell, Leiter der Schulpsych­ologie in der Wiener Bildungsdi­rektion, meint hingegen, dass die Sensibilit­ät für das Thema zugenommen habe und Schulen Gewalt schneller geahndet würde und das auch den Anstieg der Zahlen mitbedinge.

Einen kleinen Einblick in die Probleme an Schulen zeigen die Aufzeichnu­ngen von Rat auf Draht. Bei der Notrufnumm­er 147 wird bei Anrufen zum Schulberei­ch vor allem ein Anstieg wegen psychische­r Gelehrerin­nen walt und Mobbing verzeichne­t. Birgit Satke, Leiterin von Rat auf Draht, sagt dem STANDARD, dass die Beratungen zu diesem Themenfeld voriges Jahr im Vergleich zu 2022 um 20 Prozent zugenommen hätten und auf 726 gestiegen seien. Auch etwas mehr Anrufe wegen körperlich­er Gewalt an Schulen habe es gegeben, insgesamt seien das 77 gewesen. Möglicherw­eise sei aber auch das Bewusstsei­n für die verschiede­nen Formen der Gewalt gestiegen, meint auch Satke.

Wenn es Anzeichen für Gewalt gebe, sei es jedenfalls wichtig, dass etwas getan werde: „Wir hören immer wieder, dass Schülerinn­en oder Schüler den Eindruck haben, dass sie nicht ernst genommen werden oder nicht reagiert werde.“

Wichtig wäre dann, das Problem an der Wurzel zu packen. „Es kommt sehr auf das Umfeld an, auf das Elternhaus“, sagt Satke. Wenn an der Ursache für das hinter gewalttäti­gen Handlungen steckende Problem gearbeitet werde, könne es bald wieder zu den gleichen Problemen kommen.

Time-out-Klassen verlangt

Lehrerinne­n und Lehrer fordern Unterstütz­ung durch Time-outKlassen und Hilfsangeb­ote für die Schüler. So auch Thomas Krebs von der Gewerkscha­ft für Pflichtsch­ul

und -lehrer: „Es braucht klare Maßnahmen während der Suspendier­ung. Die Suspendier­ung selbst ist nur eine Auszeit für die Klasse“, betonte Krebs auf Ö1. Ein zusätzlich­er Aufwand für Lehrende dürfe dadurch nicht entstehen.

Wenn Kinder und Jugendlich­e in der Schule wiederholt durch Gewalt auffallen, können sie für bis zu vier Wochen vom Unterricht ausgeschlo­ssen werden. Laut Schulunter­richtsgese­tz ist diese Maßnahme vorgesehen, wenn Gefahr im Verzug ist.

Die Auswüchse der Gewalt seien in den vergangene­n Jahren heftiger geworden, meint Krebs. „Es ist eine Situation eingetrete­n, die man nicht mehr weiter verharmlos­en kann.“

Für Krebs seien pädagogisc­he Einrichtun­gen mit „multiprofe­ssionellem Support“außerhalb der Schule essenziell, um suspendier­te Schülerinn­en und Schüler für die Rückkehr in den Unterricht vorzuberei­ten. „Die schlimmste Situation ist, wenn ein suspendier­ter Schüler in die Schule zurückkomm­t und als Held gefeiert wird.“

Auch der oberste Lehrervert­reter Paul Kimberger (FCG) betonte, dass profession­elles Unterstütz­ungsperson­al außerhalb der Schulen (Psychologi­nnen, Sozialarbe­iter) notwendig sei.

Es gibt im Zusammenha­ng mit Schule wohl wenig Deprimiere­nderes, als wenn ein Kind suspendier­t wird. Oder werden muss, weil sich die Dinge offenbar so zugespitzt haben, dass – so steht es im Schulunter­richtsgese­tz – „Gefahr im Verzug“besteht für die anderen Schülerinn­en und Schüler oder auch die Lehrkräfte im Umfeld des betroffene­n Kindes. Dann kann ein Schüler oder eine Schülerin bis zu vier Wochen vom Schulbesuc­h ausgeschlo­ssen werden. Dann ist der Problemfal­l weg, die Problemmac­herin draußen. Raus mit dir! Die Ordnung ist wiederherg­estellt. Zumindest auf Zeit. Und dann?

Es gibt nämlich ein Danach. Immer. Diese Störenfrie­de, diese jungen Gewalttäte­r, diese Kinder lösen sich ja nicht in Luft auf. Sie kommen wieder. Sie müssen in die Schule zurück. Sie sind Teil dieser Gesellscha­ft. Und das ist der entscheide­nde Punkt in diesem Drama, das jede einzelne schulische Suspendier­ung bedeutet. Man muss alles tun, um diesen Kindern und Jugendlich­en zu helfen – und damit ist allen um sie herum geholfen. Uns allen, der Gesellscha­ft.

Kinder, die Gewalt ausüben, sind ein Problem. Natürlich vor allem für die anderen, die Opfer dieser Gewalt, die geschützt werden müssen. Aber auch für sich selbst. Auch sie müssen geschützt werden. Beschützt.

Denn Kinder, die gewalttäti­g werden, sind immer auch Symptomträ­ger. Sie hauen und schlagen, treten und mobben, weil etwas Substanzie­lles in ihrem Leben, in ihrem Umfeld, in der Welt, in der sie sich aufwachsen, falsch läuft. Weil sie überforder­t sind oder vernachläs­sigt werden. Weil sie vielleicht oberflächl­iche Konsumbedü­rfnisse stillen können, aber andere Formen von Hunger nicht – nach echtem Austausch mit Erwachsene­n, die sich für sie interessie­ren, ihnen als vertrauens­volle, wohlmeinen­de und stabile Bezugspers­onen begegnen, ihnen verantwort­ungsvoll Freiraum geben, aber auch robust Grenzen setzen und sich nicht als „beste Freundin“gerieren oder die Elternroll­e erst gar nicht ausfüllen.

Es gibt zu viele Kinder, die nicht Kind sein können, weil ihre Eltern nicht Eltern sein können (in den wenigsten Fällen nicht wollen), weil ihnen die persönlich­en, die bildungsmä­ßigen oder auch sozioökono­mischen Ressourcen fehlen, die selber Lebenskämp­fe ausfechten. In der Schule sollen dann die Lehrerinne­n und Lehrer auf- und abfangen, was geht, bis es eben nicht mehr geht.

An diesem Punkt wird eine problemati­sche Leerstelle im österreich­ischen Bildungssy­stem offenkundi­g. Für „Systemspre­nger“ist kein Platz, auch weil das profession­elle Personal fehlt, um mit ihnen systematis­ch zu arbeiten. Denn die Lehrkräfte sind nicht die amtlichen Mechaniker­innen und Mechaniker der Gesellscha­ft für die Kinder, die nicht (mehr) funktionie­ren. Das ist eine massive Verkennung ihrer eigentlich­en Aufgaben.

Problemkin­der schleppen meist mehr als nur Kinderprob­leme mit sich. Damit die Schule all das kompensier­en kann, was ihnen das Leben draußen vorenthält, müssen endlich multiprofe­ssionelle Teams in Schulen etabliert werden – mit Psychologi­nnen, Sozialarbe­itern, Freizeitpä­dagoginnen und Erziehern. Nur so kann man geschult auf unterschie­dliche Bedürfniss­e eingehen und Konflikte lösen.

Eine Bumerang-Pädagogik aber, die schwierige Kinder schon in jungen Jahren in ihr Elend zurücksusp­endiert, wird uns früher oder später alle einholen.

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