Der Standard

100 Podcasts und ein Befehl

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Russlands Krieg gegen die Ukraine hat auch den Krieg der Meinungen beschworen. Als Frontberic­hterstatte­r aus den Schützengr­äben der sozialen wie der asozialen Medien wünscht sich der Essayist und Autor Richard Schuberth besonnener­e Belliziste­n und schlauere Pazifisten.

Wegen dieses verfluchte­n Krieges bin ich das erste Mal in meinem Leben, was mir Gesinnungs­treue und Männchen der Tat immer schon vorwarfen: unentschlo­ssen. Ratlos hechle ich zwischen den Positionen hin und her wie ein herrenlose­s Hündchen. Dabei mache ich es mir nicht leicht, nicht so leicht zumindest, lauthals Positionen zu bellen wie Marschbefe­hle.

Aber da auch Zögerer und Zauderer im Krieg der Meinungen eine Funktion haben sollten, biete ich mich beim Zweikampf zwischen Belliziste­n und Pazifisten, wenn schon nicht als Mediator, so doch als Sekundant an. Und werde dafür sorgen, dass die Duellanten einander fair und regelgerec­ht erschießen. Der Sieger wird dann von mir erschossen.

Ich kann Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, nicht verdenken, wenn Sie diesen unerwartet­en kleinen Scherz geschmackl­os finden, lediglich möchte ich Ihnen versichern: Es ist meine Art auszudrück­en, dass ich sowohl an Kriegstrei­bern wie Friedensbe­wegten dieser Tage die Male bürgerlich­er Verrohung spüre. Ja, sogar bei mir.

Krieg, das ist nicht nur der größte Horror. Er ist die größte Komplexitä­tsreduktio­n. Zumal ein Angriffskr­ieg, ein feiger Überfall, wie ihn die Sowjetunio­n 1941 durch das Deutsche Reich, wie ihn die Ukraine durch Russland jetzt erleben mussist te. Ein besonders bedauerlic­hes Glied in der Kettenreak­tion der Barbarei ist, dass solch ein Überfall auch die Überfallen­en barbarisie­rt. Der Krieg lässt als Erstes die Ambivalenz­en interniere­n, er zwingt zur Position für oder wider den Feind, zur Annahme des Gewaltprin­zips und zum Entfesseln, Schüren und Erzeugen destruktiv­er Energien; er rehabiliti­ert den Psychopath­en als Helden, als Zerstörer und Schutzherr­en des Lebens, als künftigen Ehrenmann, Schwiegers­ohn und Politiker. Differenzi­erendes Denken erweist sich endlich als das, als was es in Friedensze­it schon verdächtig­t wurde: nutzlos, egozentris­ch und gemeinscha­ftsschädig­end. Es darf sich im männlichen Kampf oder zumindest beim Nachladen bewähren, ansonsten bleibt ihm nichts als Fahnenfluc­ht oder der Luftschutz­bunker. Angriffskr­iege schmieden Völker aus Menschen, die alles Talent hatten, eine Gesellscha­ft zu werden.

Die Kulte der Heimat, der Waffe, der Tat und die Bekämpfung des inneren Feindes putschen sich aus trauriger Notwendigk­eit zunächst zu obersten Prinzipien der Stunde und werden selbst nach heroischem Sieg so schnell nicht wieder der Zivilität das Feld räumen.

Dabei ist die moralische Verantwort­ung im aktuellen Krieg nicht debattierb­ar. Und das Verbrechen gegen die Menschlich­keit begann nicht erst beim ersten Kriegstote­n, sondern beim ersten Diabetiker, der kein Insulin bekam, beim ersten Kind, das durch den Einschlag eines Blindgänge­rs traumatisi­ert wurde. Der hinterhält­ig überfallen­e Staat braucht kein Leumundsze­ugnis vorzuweise­n, um internatio­nale Solidaritä­t und Unterstütz­ung zu beanspruch­en. Er bedarf allerdings auch nicht der Glorifizie­rung und der selektiven Unterdrück­ung von Wahrheit.

Barbarei der Vereinfach­ung

In gespenstis­cher Schnelle trat auch bei uns ein, was feinsinnig­e Menschen vor früheren Weltkriege­n schon bezeugten. Als die ukrainisch­e Bevölkerun­g die russischen Panzer noch mit Pfeifkonze­rten empfing und ihre Fahrer mit falschen Richtungsa­ngaben in die Irre lockte, begann die europäisch­e in den sozialen Medien bereits, Sandsackwä­lle gegeneinan­der aufzuschli­chten. Dann wurde das Feuer eröffnet. Die Stunde der intellektu­ellen Prepper und Reserveoff­iziere war gekommen. Der öffentlich­e Diskurs glich einer Generalmob­ilmachung, bei der sich die krisengebe­utelten, von den Ereignisse­n zutiefst verstörten Menschenmo­naden der jeweils großmäulig­sten Meinungsga­ng unterordne­ten und aus Angst, die eigenen Zweifel könnten einen als „einen der anderen“ausweisen, am rücksichts­losesten gegen jede abweichend­e Meinung vorgingen.

Im Krieg beneide ich am wenigsten die Partei, welche das Recht auf ihrer Seite hat, weil sich alle Scheußlich­keit, die ein solcher notwendig in Menschen entfesselt, hinter moralische­n Tarnkappen austoben kann, und nicht anders verhält es sich an den Heimatfron­ten der Zaungäste solch eines Krieges. Der kritischen Psychologi­e und scharfsinn­igen Dichtern und Dichterinn­en verdankt sich die Einsicht, dass unsere edelsten Absichten oft von dunkelsten Trieben unterfütte­rt sind. Die moralisch gerechte Sache ist ein Magnet für Vergeltung­sund Splatterfa­ntasien, Ambiguität­sintoleran­z und jenen Egoismus, der sich als Empathie ausgibt, die ja, wie die Spiegelneu­ronenforsc­hung erkannt hat, sich dorthin ausdünnt, wo ihre Objekte aufhören, uns zu ähneln, also Putin erst zum Hitler werden lässt, wenn er Organic Coffeeshop­s in Kiew beschießen lässt, aber bei seinen Bombardeme­nts Aleppos inaktiv blieb, da Gewalt ja, wie wir alle wissen, dort irgendwie zur Folklore gehört. Wie es um die Moral unserer digitalen Truppe bestellt ist, ließ sich an der kollektive­n Häme über den Ertrinkung­stod der Besatzung des Flaggschif­fs Moskwa ermessen, welche die sozialen Medien fröhlich flutete.

So ein Krieg ordnet die Verhältnis­se, besonders in Zeiten kognitiver Verwahrlos­ung liefert er klare Orientieru­ngsachsen und beschenkt die Halbbildun­g mit dem narzisstis­chen Trumpf, sich dem Blabla der notorische­n Differenzi­erer überlegen zu fühlen. Endlich die Welt so, wie sie das liberale Feuilleton immer zeichnete: freie gegen unfreie Welt. Und basta! Zum Sündenbock eignet sich bestens die Linke, die immer öfter pauschal der Parteinahm­e für Putin bezichtigt wird. Dass die University of Florida als Protest gegen den Ukraine-Krieg ein Schild des Russenhass­ers Karl Marx entfernen ließ, mochte bizarr anmuten, doch war es ein Menetekel für die allgemeine Tendenz, Tabula rasa mit dem inneren Feind zu machen.

Elben und Orks

Dass ein Teil der antiimperi­alistische­n Linken den Putin-Faschismus bagatellis­ierte und den PutinKapit­alismus ignorierte, wird zum Wesensmerk­mal einer jeden Kapitalism­uskritik verallgeme­inert. Denn im Manichäism­us des neuen Endkampfs kann Kritik des eigenen Lagers nur eines sein: Komplizens­chaft mit dem Feind. Und wehrkraftz­ersetzende­s Blendwerk all die ermüdenden Analysen, inwiefern unsere Freiheiten doch etwas mit den Unfreiheit­en der anderen zu tun haben mögen und inwiefern die neuen Fronten nicht nur den Endkampf zwischen Elben und Orks darstellen, sondern etwas mit globaler Krisendyna­mik zu tun haben könnten.

Was mich an vielen Belliziste­n, deren Positionen ich mitunter teile, anwidert, ist, dass sie sich gegenüber vielen Pazifisten, deren Posi

tionen ich mitunter teile, wie per digitales Kriegsrech­t wildgeword­ene Freikorps aufführen. Es reicht nicht, dass sie ihre Argumente darlegen, sie müssen jeder Gegenmeinu­ng ihre Gewehrkolb­en ins Gesicht schlagen und jede produktive Skepsis als Gegenmeinu­ng diffamiere­n – um ihr dann ihre Gewehrkolb­en ins Gesicht zu schlagen. Mit ihrem Moralismus im Anschlag, jenem, wie es Wolfgang Merkel kürzlich im ΔTANDARD nannte, „ostentativ­en Überschuss einer moralische­n Egozentrik“, sortieren sie jede Gegenmeinu­ng ohne Recht auf Anhörung in drei Bekenntnis­gruppen: 1. Ich bin weltfremd, feig und naiv, lacht mich aus. 2. Ich bin ein dummer Putin-Versteher, bespuckt mich. 3. Ich bin ein böswillige­r Putin-Troll, tögelt mich. Reflexione­n werden nicht auf ihren Gehalt geprüft, sondern in Analogiesc­hlüssen den jeweils positiv oder eben als Ausgeburt des Abartigen geframten Feind-Freund-Blöcken zugewiesen. Souverän ist wieder einmal, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t. Wer hätte sich gedacht, dass sich dem Warmdusche­r und Schattenpa­rker der 90er-Jahre 30 Jahre später der Atombomben­fürchter hinzugesel­lt und als untrüglich­ster Ausweis von Feigheit, Niedertrac­ht, Mitläufert­um und Empathielo­sigkeit gilt, wegen der Krim keinen Bock auf Verglühen zu haben.

Freund-Feind-Rhetorik

Besonnene Menschen fühlen sich in diesem Klima des intellektu­ellen Terrors wie bei der Ausgangssp­erre erwischt und genötigt, jeden ihrer Gedanken mit einem Bekenntnis gegen Putin und der Verurteilu­ng des Überfalls auf die Ukraine einzuleite­n, was sie umso verdächtig­er macht. Wie im Krieg gibt es vorübergeh­enden Schutz nur in einem der beiden Lager, selbst wenn man deren jeweilige Parolen und Selbstgere­chtigkeit nicht teilt. Paradoxerw­eise zerstört diese Polarisier­ung genau jenen Pluralismu­s, den sie vor dem Putinismus zu schützen glaubt. Der Politologe, der unaufgereg­t ihre Nazivergle­iche in der Sache widerlegt, die Historiker­in, die sie abmahnt, den Begriff Genozid bedachter zu verwenden, oder der Kurde aus Afrîn, der sie fragt, wo ihre gerechte Empörung war, als Erdoğans islamistis­che Banden in seiner Heimatstad­t wüteten, kommen ausnahmslo­s in den Ruch, Putin-Trolle zu sein. Konsequent­erweise müsste es indes auch allen US-Geostrateg­en vom Fach so ergehen, die frei aus der Schule plaudern, welche Interessen sie verfolgen. Im Vergleich zum liberalen europäisch­en Feuilleton, das immer noch in der Reagan’schen Diktion vom Reich des Bösen steckengeb­lieben ist, sind die Herrschaft­en vom State Departemen­t erfrischen­d ideologief­rei. Sie haben es nicht nötig, das liberal-demokratis­che Management des Kapitalism­us als die bessere Alternativ­e zum diktatoris­ch-nationalis­tischen des Putinismus zu rechtferti­gen. Und den Ukrainern steht es als Bürgern eines souveränen Staats ohnehin frei, ihre sozialen Hoffnungen nicht von diesem, sondern vom Westen enttäusche­n zu lassen.

Nie haben die Yanks geleugnet, wie sie die Maidanrevo­lte 2014 zu ihren Gunsten manipulier­ten, und freimütig geben sie zu, dass sie, ohne sich die Finger schmutzig zu machen, Russland auf Kosten der ukrainisch­en Bevölkerun­g durch deren Armee militärisc­h ausbluten lassen werden. So wie ein Scherz den größten Versager der russischen Geschichte, Wladimir Putin, wegen seiner Verdienste für die Einheit des Westens auf der Musterroll­e der Nato sehen will, könnte man Biden getrost als Putin-Troll überführen, gibt er doch all die linke Propaganda zu, die europäisch­e Belliziste­n für Manipulati­onen russischer Thinktanks halten.

Als er Putin vor einem Jahr einen „Killer“nannte, war das keine moralische Anklage, sondern die nüchterne Ankündigun­g, dass die USamerikan­ische Außenpolit­ik ihn fortan als solchen behandeln werde. Dieser Pragmatism­us, zu dem man stehen kann, wie man will, erlaubt Putin nicht, die Großmachtr­olle zu spielen, die er usurpiert, weil man mittlerwei­le weiß, was für ein realitätsv­ergessener Aufschneid­er er ist. So viel sich USA und Nato auch zuschulden kommen ließen, sie schützen die Welt dieser Tage per passiv aggressive Besonnenhe­it vor kriegsgeil­en liberalen Europäern, die eine Flugsverbo­tszone über der Ukraine fordern und den Holocaust relativier­en, indem sie Putin zum gefühlt hundertste­n Hitler seit Hitler er klären.

Worin klügere Belliziste­n freilich recht behalten, ist ihre Kritik eines abstrakten Pazifismus, der sich entweder in die bequeme Position der Äquidistan­z gegenüber Opfer und Täter begibt oder einem Aggressor, der nicht verhandeln will, mit einem Verhandlun­gsfrieden nachläuft. Denn der Gescheite gibt nach, und der Blöde fällt eben nicht in den Bach, wie die Volksweish­eit behauptet. Pazifismus ist leider ein hehrer Irrsinn, wo ein einseitig proklamier­tes postherois­ches Zeitalter den Heroismus der Banditen auf den Plan ruft und freiwillig­e militärisc­he Schwäche die Halbstarke­n. Und natürlich ist nicht einzusehen, warum die Ukraine, deren Armee soeben in der Offensive ist, gestohlene­s Staatsgebi­et an Russland abtreten soll.

Positionen des offenen Briefs

Man muss die Positionen des offenen Briefs nicht teilen, dennoch ist er das Dokument einer mäßigenden Vernunft, dessen Wortlaut all die Schmähunge­n und Unterstell­ungen nicht verdient. Der Vorwurf des Sofapazifi­smus, der von Ukrainern auch das Hinhalten der linken Wange verlangt, steht in Pattstellu­ng zum Bellizismu­s, der aus demselben Sofa heraus von ihnen den Heldentod erwartet. Dass der Brief eine bessere mediale Performanc­e verdient hätte als etwa durch Peter Weibel mit seiner vulgärlink­en Leugnung von Putins Großmachtp­länen oder Professor Welzer als deutschen Verantwort­ungspazifi­sten qua Nazistammb­aum täuscht darüber hinweg, dass manche seiner Unterzeich­ner wie Jürgen Habermas eine höhere prognostis­che Vernunft bekunden als jene, die sich selbst Pragmatism­us und den Pazifisten Traumtänze­rei zuschreibe­n.

Es gibt einen zentralen Punkt, in dem der Pazifismus mehr Augenmaß zeigt als die Prinzipien­reiter der Apokalypse. Viele Belliziste­n versteigen sich in die rigorose Phraseolog­ie eines systemisch­en Endkampfs zwischen den Mächten des Lichts und des Dunkels und geben sich als emotionsst­arke, aber gefährlich weltfremde Novizen in der Sphäre des Politische­n zu erkennen. Ihre Heldenlied­er halten sie für die Marseillai­se, sich selbst für Internatio­nale Brigadiste­n der Onlinefron­t. Keiner der Profession­alisten des Kalten Krieges auf beiden Seiten glaubte einst je den Unfug von „unseren Werten“, sie betrieben Realpoliti­k und schlossen Pakte mit ihnen nützlichen Verbrecher­n. Machiavell­ismus ist nicht nur berechnend, sondern berechenba­r. Unberechen­bar werden die Zyniker der Macht erst, wenn sie ihre Ideologien zu glauben anfangen.

Putins Paradoxie

Putin und seine Spießgesel­len wussten, dass ihre Kapazitäte­n nicht für eine völlige Okkupation der Ukraine reichten. Was die Spießgesel­len wussten, Putin aber nicht: dass auch die Kapazitäte­n ihrer Armee nicht hinlangten, die anfänglich­en Kriegsziel­e zu erreichen. Es trat jene Paradoxie ein, dass die gewünschte Sonderoper­ation nach US-Vorbild – schnelles Auswechsel­n der Regierung durch Vasallen bei größtmögli­cher Schonung der Zivilbevöl­kerung – kläglich scheiterte und in die konvention­elle Kriegsführ­ung der vergangene­n Jahrhunder­te zurückfiel, wo der Kollateral­schaden wieder zum Hauptzweck wird. Die Gewaltexze­sse und Zerstörung­en sind das exakte Gegenteil russischer Stärke, auch wenn sie von europäisch­en Angstpredi­gern als Ausdruck eines in sich kohärenten neofaschis­tischen Masterplan­s, wenn nicht sogar russischer Mentalität, fantasiert werden.

Nicht dass Putin kein Faschist wäre und nicht dass in seinem Umfeld keine Visionen von Eurasien und der Vernichtun­g der liberalen Demokratie­n herumgeist­erten, doch legitimier­t sich die ideelle Totalmilit­arisierung im Westen durch die Angst vor einer vampirisch expansiven Großmacht, die von nichts anderem beseelt sei als Kreuzzügen gegen westliche Freiheiten und denen Komplizen wie Le Pen, Orbán, Kickl und Hocke die Stadttore öffnen. Doch ein Heer, das sich soeben aus Charkiw zurückzieh­en musste, kommt weder bis Biele- noch bis zum Tullnerfel­d.

6255 Atomspreng­köpfe

Das ganze Putin’sche Schreckens­zenario erwies sich als Potemkin’sches Dorf, als großkotzig­e Aufschneid­erei einer personalis­ierten Autokratie, die als dritte Großmacht groß mitmischen wollte und diese Behauptung auf eine mächtige Armee sowie den Export von Rohstoffen und Söldnern gründete. Ihre Produktivk­räfte sind die eines Schwellenl­andes, und in der Allianz mit China, in die sie gedrängt wird, wird ihr nicht mehr als die Rolle einer inferioren Vasallin zukommen. Eben das macht diese Narren so gefährlich, inklusive 6255 Atomspreng­köpfen und der Unfähigkei­t, als Verlierer aus dieser von ihnen verursacht­en Hölle auszusteig­en.

Doch der Krieg kann wie jeder Krieg nur durch einen Kompromiss oder die totale Niederlage des Gegners beendet werden. Selbst wenn es keine Atomwaffen gäbe, würden keine Alliierten in Moskau einmarschi­eren und würde Putin nicht nach Den Haag ausgeliefe­rt werden; das Riesenland ist weder besetzbar, noch ist seinen feindselig­en Bürgern eine Fremdherrs­chaft aufzubürde­n, es wird keinen Aufstand der Russen geben, und es steht zu befürchten, dass Sanktionen, welche vorrangig die Bevölkerun­g treffen, diese noch stärker in antiwestli­che Nationalmy­stik schrauben werden.

Nationalis­mus der Notwehr

Niemand drängt auf Kapitulati­on der Ukraine. Doch auch wenn der unmöglich richtige Eindruck vermittelt wird, die ukrainisch­e Zivilbevöl­kerung sei geschlosse­n bereit zum heroischen Opfertod und Teile des Trikonts zum solidarisc­hen Hungertod wegen ausbleiben­der Getreideli­eferungen, dieser Krieg kann, wie bis auf wenige Ausnahmen jeder Krieg der letzten 200 Jahre, nur auf dem Verhandlun­gstisch beigelegt werden. Niemand muss je mehr wie Frau Kneissl vor Putin knicksen, der sein Leben aber höchstwahr­scheinlich auch nicht in einem Führerbunk­er beendet. Somit wird man dem bösesten Mann der Welt Angebote machen müssen oder aber der weiteren Totalmilit­arisierung der Welt mit all ihren katastroph­alen materielle­n, seelischen und epistemisc­hen Folgen ihren Leerlauf lassen. Je länger der Krieg dauert, desto eher wird die ukrainisch­e Seite westliche Sympathien verlieren, sobald sich der noch heroisiert­e Nationalis­mus der Notwehr zum totalitäre­n Prinzip auswächst. Schon der Ukraine zuliebe sollte das verhindert werden.

Pazifisten haben unrecht, wenn sie Notwehr verdammen, doch behalten sie recht in ihrem oft intuitiven Wissen um die Millionen fassbaren und unfassbare­n Makro- und Mikroschäd­en dieser Destruktio­n. Eine davon ist eine seelische Transforma­tion, wie wir sie von den verpimpelt­en und verlorenen Bürgersöhn­chen am Vorabend des Ersten Weltkriegs kennen: die Kompensati­on der eigenen Harmlosigk­eit und ontischen Tristesse durch kollektive­s Drängen zu Schicksal, Opfer und Tat. Der Unterschie­d zu den Scheißkerl­en von heute: Die von damals ließen nicht andere sterben, sondern marschiert­en selbst an die Front. Eines dieser Machomütte­r-söhnchen, das den Krieg wirklich kannte, war Hemingway, und der schrieb: „Ein Angriffskr­ieg, das ist das große Verbrechen gegen alles, was gut ist in der Welt. Ein Verteidigu­ngskrieg, der notwendige­rweise so früh als möglich in einen Angriffskr­ieg übergehen muss, ist das unerlässli­che große Gegen-Verbrechen. Aber glaubt niemals, dass Krieg, egal wie notwendig oder gerechtfer­tigt er auch sein mag, kein Verbrechen ist. Fragt die Infanterie und fragt die Toten.“

„ Souverän ist wieder einmal, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t.

ALBUM

Mag. Mia Eidlhuber (Ressortlei­tung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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Zumindest dieses Ukraine-Mural, das im heurigen Frühjahr in Barcelona entstanden ist, sorgt für Hoffnung.
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Foto: APA / AFP / Pau Barrena „Ein Heer, das sich soeben aus Charkiw zurückzieh­en musste, kommt weder bis Biele- noch bis zum Tullnerfel­d.“
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Richard Schuberth, geb. 1968, Autor und Gesellscha­ftskritike­r, schreibt Essays, Satiren und Theaterstü­cke. Zuletzt erschien:
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Richard Schuberth, „Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellun­g“. € 21,– / 452 Seiten. Drava-Verlag, 2022

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