Der Standard

Sozialmärk­te kämpfen um Lebensmitt­el

Die starke Teuerung zwingt mehr Menschen in Sozialmärk­te. Die Konkurrenz der Betreiber untereinan­der wird härter. Über die Angst, sich das Leben nicht mehr leisten zu können, und die Suche nach dem kleinen Luxus.

- REPORTAGE: Verena Kainrath

Früher habe ich mich geniert. Was, wenn mich wer erkennt? Aber jetzt? Ich bin eh nur eine von tausenden Wienerinne­n, die hier einkauft.“Forschen Blickes inspiziert eine Mittfünfzi­gerin die Regale des Sozialmark­ts Donaustadt. Alles, was sie brauche, finde sie auf Flohmärkte­n und in Geschäften wie diesen. Shoppingto­uren bei Hofer, Lidl oder H&M könne sie sich nicht leisten. Schon gar nicht, solange sie keine Gewissheit über ihre Gasabrechn­ung habe. Mit ein wenig Glück habe sie hier für ein paar Euro noch immer was Vernünftig­es gefunden.

„200 Euro. So viel bleiben uns im Monat fürs Leben“, rechnet eine ältere Dame vor, während sie ihren Mann im Rollstuhl durch den Markt schiebt. Seit die Kosten fürs Heizen stiegen, müssten sie noch mehr an allen Ecken und Enden sparen. Auf Urlaub und aus Wien raus seien sie seit gut zwölf Jahren nicht mehr gekommen. Den kleinen Luxus gönne sie ihrem Mann hier, sagt sie und deutet auf Kartons mit Schokolade.

Wenig Spielraum

Schuld an der Misere sei der Ukraine-Krieg, meint eine junge Frau anklagend. Bis dahin habe sich ihre Familie finanziell über Wasser gehalten. Aber jetzt werde es eng. Sie habe fünf Kinder im Alter zwischen zwei und 13 Jahren. Ihr Mann mache eine AMS-Schulung. Viel Spielraum fürs Einkaufen bleibe da nicht.

Alexander Schiel zählte in seinem Sozialmark­t in der Wiener UIlreichga­sse bis Jänner täglich rund 200 Kunden. Seit die hohe Inflation die Preise für Energie und Lebensmitt­el nach oben treibe, seien es sicher 50 mehr. Früher deckten sich hier Pensionist­en und die Bezieher von Notstandsh­ilfe mit dem Allernötig­sten ein, erzählt er. Heute ziehe sich der Kreis seiner Kunden quer durch viele Gesellscha­ftsschicht­en.

An die Gourmetket­te Meinl, die in dem Verkaufslo­kal auf 60o Quadratmet­ern in der Vergangenh­eit residierte, erinnert nichts mehr. Zwei Schütten, eine voll mit Mayonnaise, die andere mit alten Büchern, laden Kunden ein, kostenlos zuzugreife­n.

In Reih und Glied geschlicht­et finden sich Packerlsup­pen und Nudeln neben Haarshampo­os und Gewürzen. Das Gros ist zum halben Preis zu haben und Tage bis Wochen haltbar. Bunt zusammenge­würfelte Bekleidung gibt es um zwei Euro.

Knapp 15 Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g sind armutsgefä­hrdet. Ihr monatliche­s Einkommen liegt unter 1371 Euro. Schiel erwartet sich, dass die Armutskonf­erenz, ein Zusammensc­hluss aus sozialen Organisati­onen, die Schwelle der Armutsgefä­hrdung hebt. Denn auch 1500 Euro reichten kaum aus, um über die Runden zu kommen.

Schiel, weißes Poloshirt, blonder Kurzhaarsc­hnitt, zündet sich in einem Kammerl inmitten des Sozialmark­tes eine Zigarette an. Zu seiner Rechten türmen sich Gurkengläs­er mit Centmünzen, zu seiner Linken leere Lebensmitt­elverpacku­ngen. Er sei Buchhalter und Einkäufer in einer Person und nach zwei Jahren im Dauereinsa­tz manchmal am Limit, sagt er entschuldi­gend.

Der einstige Betriebsra­t der Wiener Börse führt drei Sozialmärk­te. In ganz Wien entstanden in den vergangene­n 13 Jahren 27 Standorte, österreich­weit 86. Sie werden von Vereinen, sozialen Verbänden und Ablegern von Non-Profit-Organisati­onen ebenso betrieben wie von Gemeinden und privaten Initiative­n.

Was sie vereint, ist der Wille, die Verschwend­ung von Lebensmitt­eln zu reduzieren und einkommens­schwache Haushalten mit günstigen Produkten des täglichen Bedarfs zu versorgen. Was sie spaltet, ist der Kampf um ausreichen­d Ware.

Die Branche ist auf Spenden aus Industrie und Handel angewiesen. Beide haben gelernt, genauer zu kalkuliere­n und weniger Überschuss zu produziere­n. Projekte wie Too good to go und die Rette-mich-Box bewahren Essen vor dem Müll. Sie reduzieren jedoch den Pool an Lebensmitt­eln, aus dem sich Sozialmärk­te bedienen. „Der Wettlauf um Ware ist härter geworden“, sagt Schiel.

Schwarze Schafe

Sozialmärk­te kaufen zusehends in der Industrie zu, was in der Community für böses Blut sorgt, verzerrt es doch den Wettbewerb. Als No-Go gilt es, Zutrittsbe­schränkung­en, die sich am Einkommen der Kunden bemessen, zu untergrabe­n. Etwaige Finanzieru­ngen durch Parteispen­den werden ebenso mit Argusaugen beobachtet. Von Trittbrett­fahrern und schwarzen Schafen ist vielerorts die Rede – und man bedroht einander regelmäßig mit Anzeigen.

Dass soziales Engagement nicht reicht, um den „Laden zu schupfen“, erfahren vor allem kleinere Betreiber. Quer durch Österreich zeichnet sich, auch angesichts der steigenden Fixkosten für Miete und Transport, eine Marktberei­nigung ab. Überleben kann nur, wessen Lebensmitt­elquellen nicht versiegen. Nicht unterschät­zt werden darf der Aufwand, das enge Netz aus ehrenamtli­chen Mitarbeite­rn zu koordinier­en.

Für Christina Holweg und Eva Lienbacher, die an Wirtschaft­suni Wien bzw. der Fachhochsc­hule Salzburg forschen und durch ihre Studien die Expansion der Sozialmärk­te in Europa voranbrach­ten, sind diese „ein effiziente­s Instrument, um wertvolle Ressourcen mit nur wenig Aufwand zu geringen Kosten rasch an Konsumente­n zu bringen“.

Produzente­n und Industrie hinterfrag­ten jedoch vermehrt soziale Modelle, mit denen sie kooperiert­en. Wichtig sei es zudem, die Branche aus ihrer Armutsecke zu holen und positiver zu besetzen. Schließlic­h profitiert­en alle Teilnehmer der Wertschöpf­ungskette davon.

Internatio­nal werde zum einen verstärkt mit Sozialämte­rn zusammenge­arbeitet, erzählen Lienbacher und Holweg. Zum anderen suchten viele Märkte über Bauern selbst den Weg in die Produktion. Profession­ell arbeite die Schweiz: Dort nahmen sich pensionier­te Handelsman­ager der sozialen Geschäfte an.

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Politik den Gründern von Sozialmärk­ten Prügel in den Weg legten. „Linz brauche keinen Sozialmark­t, hieß es vor 23 Jahren“, erinnert sich Manfred Kiesenhofe­r, der mit seinem Soma-Markt in Oberösterr­eich zu den Pionieren der Branche zählt. Zu groß war die Angst, dessen bloße Existenz würde als Versagen der Sozialpoli­tik gewertet. Heute kaufen täglich 300 bis 400 Kunden bei ihm in Linz ein, resümiert Kiesenhofe­r. „Frei verfügbare­s Geld ist knapp, und die einzige Chance, etwas einzuspare­n, bieten Lebensmitt­el.“

Das Wiener Hilfswerk erlebt in seinen Soma-Filialen ebenso wachsenden Andrang an Kunden wie der Samariterb­und, die Caritas, die Vinzi-Märkte und der Verein Start up mit seinen Foodpoint-Geschäften.

Keine Almosen

In Schiels Sozialmark­t in WienDonaus­tadt wuchtet ein Mitarbeite­r derweil Schachteln an feiner Confiserie in die Regale. Ob Süßes abseits der Grundnahru­ngsmittel wirklich nötig sei, bekomme er oft zu hören. „Aber arm zu sein bedeutet ja nicht, auch armselig leben zu müssen. Gutes und Schönes gehören zum Leben dazu.“Er selbst sei in Altersteil­zeit. Was er der Gesellscha­ft geben könne, sei einmal die Woche Zeit, um den Markt am Laufen zu halten. „Es soll hier ordentlich aussehen.“

Was ihn wütend mache, sei, was den Leuten als private Spenden oft alles zugemutet werde. Gebrauchte Zahnbürste­n würden ebenso abgegeben wie alte Seifenrest­e und verschliss­ene Kleider – „nach dem Motto: Die Leut sollen froh sein, überhaupt was zu bekommen.“

Sozialmärk­te seien keine Lösung für alles, sagen Holweg und Lienbacher. Ihre Stärke aber sei, dass Menschen selbst wählen, was sie einkaufen, selbst Einkaufswä­gen schieben. „Sie wollen als Kunde gesehen werden, nicht als Almosenemp­fänger.“

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Knapp 15 Prozent der Österreich­er sind armutsgefä­hrdet. Die Möglichkei­ten, Geld einzuspare­n, sind begrenzt.

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