Der Standard

Erst Angst, dann Trauer

Wie viele russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine bisher schon gefallen sind, kann niemand genau sagen. Meist aber trifft es junge Männer aus ärmeren Regionen des Landes, die sich wegen des Geldes zur Armee gemeldet haben.

- REPORTAGE: N. N.* * Der Name des Autors wird aus Sicherheit­sgründen nicht genannt.

Dmitrij aus Saratow ist 19 Jahre alt, als er in den Krieg zieht. In der Internetze­itung Swobodnje Novosti erzählt seine Mutter seine Geschichte. „Als unsere Armee in Syrien kämpfte, sagte er, dass auch er Soldat werden wolle“, erinnert sie sich. Er unterschri­eb einen Vertrag, verpflicht­ete sich. „Alles begann rund um den

15. Februar. Er rief zu Hause an und sagte: ‚Mama, das ist erstaunlic­h. Alle Zeitsoldat­en gehen irgendwohi­n.‘“Am 21. Februar rief Dmitrij erneut an: „Mama, wir ziehen morgen los. Es scheint, dass es eine ‚Sonderoper­ation‘ geben wird.“Erst im März hört seine Mutter erneut von ihm. In den Tagen nach dem

24. Februar, dem Einmarsch in die Ukraine, sitzt sie stundenlan­g vor dem Handy, wartet auf Nachricht. Sieht einen Telegram-Kanal, auf dem Ukrainer Fotos und Videos mit toten und gefangenen russischen Soldaten posten.

Im März meldet sich Dmitrij wieder. „Vom Telefon einer anderen Person. Ich habe mit ihm gesprochen und gedacht: Nur nicht ins Telefon schreien, nur nicht schreien! Mein Mann glaubte lange nicht, dass die Jungs in einem Kriegsgebi­et waren, bis er eines Tages direkt während eines Telefonges­prächs Bomben hörte.“Dmitrij legte auf und rief zehn Minuten später zurück. „Mama, mir geht es gut, wir leben alle.“

Zahlen im Nebel

Geschichte­n wie diese liest man in vielen Internetze­itungen, in Foren und den sozialen Medien. Geschichte­n von Eltern, die sich um ihre Söhne sorgen. Geschichte­n von jungen Soldaten, die in eine „Spezialope­ration“geschickt werden, ohne zu wissen, warum. Es sind keine Mörder, keine Bestien, einfach nur junge Männer voller Angst. Nachprüfen kann man diese Geschichte­n nicht. Doch sie klingen nicht nach Propaganda. Und es gibt Fakten.

1351 russische Soldaten seien bislang gestorben, 3825 verletzt worden, so lauten die aktuellste­n Zahlen des russischen Verteidigu­ngsministe­riums. Es werden wohl mehr sein, aber weniger als die 16.000 Toten, von denen die ukrainisch­e Seite spricht. Freiwillig­e der Organisati­on Mediazona, gegründet einst von Pussy-Riot-Aktivistin­nen, durchforst­en offen zugänglich­e Quellen, Lokalzeitu­ngen, aber auch Seiten im Netz. Mit Stand vom 6. Mai kann Mediazona den Tod von 2099 russischen Soldaten einwandfre­i nachweisen. „Diese Zahl spiegelt nicht das tatsächlic­he Ausmaß der Verluste wider“, schreibt die Organisati­on. „Wir sehen nur öffentlich­e Berichte über Todesfälle. Dazu gehören Beiträge von Angehörige­n, Nachrichte­n in regionalen Medien und Berichte von lokalen Behörden. Darüber hinaus ist die Zahl der Vermissten und Gefangenen unbekannt.“

Laut Mediazona fielen mindestens 500 Soldaten der Kampftrupp­en, Fallschirm­jäger, Marinesold­aten und Spezialein­heiten. Mehr als 300 Offiziere starben. Mindestens 20 Kampfpilot­en und sieben Hubschraub­erpiloten überlebten den Krieg bisher nicht. Die meisten Soldaten starben sehr jung, darunter auch Wehrpflich­tige, die eigentlich nicht bei der „Spezialope­ration“eingesetzt werden dürfen. Und noch eine interessan­te Erkenntnis gewannen die Rechercheu­re von Mediazona: Die meisten der toten Soldaten stammen aus armen Regionen wie Dagestan und Burjatien, wo der durchschni­ttliche Monatslohn um die 200 Euro liegt und ein Vertrag als Zeitsoldat vergleichs­weise viel Geld einbringt. Die wenigsten Kriegstote­n stammen aus den reichen Regionen rund um Moskau und Sankt Petersburg.

Auch aus Dagestan gibt es viele Berichte im Netz. Dort, wo die Kämpfe in der Ukraine geografisc­h weit entfernt sind – und persönlich doch so nahe. Zum Beispiel Berichte aus Iserbasch, 56.000 Einwohner, eine Fabrik für Elektroöfe­n, etwas Lebensmitt­elindustri­e. Dort lebt Safija.

Viele offene Fragen

Safija ist eigentlich im Ruhestand, schreibt die Internetpl­attform daptar.ru. Doch von 9000 Rubel Rente, knapp 140 Euro, kann niemand leben. So arbeitet sie stundenwei­se in einer Schusterei. Und dort, sagt Safija, gebe es nur ein Gesprächst­hema: den Krieg und die Verwandten, die dort kämpfen. „Wen Sie auch fragen: Jeder hat einen Angehörige­n dort. Jemand hat einen Bekannten in der Armee, jemand einen Cousin, jemand anderer einen Neffen. Alle, ohne Ausnahme.“Wie denkt sie über die sogenannte Spezialope­ration? „Es ist nicht klar, wofür sie kämpfen, was dort passiert. Manche sagen das eine, andere etwas anderes. Wir sitzen einfach da und schauen, was im Fernsehen läuft, schauen auf Instagram.“Und sie ergänzt: „Einige sagen: Dieser Krieg ist für diejenigen, die dabei reich werden.“Andere wiederum, so erzählt es Safija, sagen, Präsident Putin habe das Richtige getan. Ansonsten hätten die Feinde Russland angegriffe­n. „Wir wissen nicht, was los ist. Und wer leidet? Soldaten leiden, ihre Familien leiden, Mütter leiden, ihre Frauen.“

Dem Internetpr­ojekt daptar.ru geht es um die Situation von Frauen in der nordkaukas­ischen Gesellscha­ft. Derzeit das wichtigste Thema: die Situation der Mütter, der Ehefrauen und der Freundinne­n von Soldaten, die jetzt in der Ukraine kämpfen. Man berichtet objektiv und ausgewogen, lässt auch Befürworte­rinnen des Kriegs zu Wort kommen.

Nachrufe im Internet

Zainab zum Beispiel ist Soldatin. Sie musste nicht an der „Spezialope­ration“teilnehmen. Den Krieg aber findet sie richtig. „Daran habe ich keinen Zweifel, ich habe der Rede unseres Präsidente­n Wladimir Putin aufmerksam zugehört. Ich glaube, es war notwendig. Mein Vater sagte immer, dass man Opfer bringen muss, um Frieden und Ruhe zu erreichen.“Und all die jungen Soldaten, die sterben? „Wenn sie sich für den Militärdie­nst entscheide­n, müssen sie verstehen, dass dies kein friedliche­r Beruf ist. Diese Wahl bedeutet, dass sie bereit sind, die zugewiesen­en Aufgaben zu erfüllen und die Interessen ihres Heimatland­es zu schützen.“

Immer mehr wird bekannt über russische Soldaten, die in der Ukraine sterben. Auch wenn das dem Kreml unangenehm ist. Immer mehr Nachrufe gibt es, auch auf offizielle­n Websites. Auf einer davon schreibt die Witwe eines Soldaten: „Igor war ein guter, sympathisc­her Mensch, ein guter Vater, er hat uns immer in allem geholfen, er hat uns sehr geliebt.“Und dann kommt die Formulieru­ng, mit der alle Nachrufe auf dieser Seite enden: „Durch das Dekret des Präsidente­n der Russischen Föderation wurde Kliuew Igor Nikolaewit­sch posthum der Orden des Mutes verliehen.“

Gegen die Ausweitung des Krieges und eine mögliche Generalmob­ilmachung gibt es ersten Widerstand. In Luchowizy bei Moskau versuchte ein Unbekannte­r, im Einberufun­gsamt Akten von Wehrdienst­pflichtige­n in Brand zu stecken. Ähnliches geschah in Woronesch und in der Oblast Swerdlowsk.

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Foto: AP Russische Soldaten im zerstörten Mariupol. Auch für viele aus ihren Reihen wartet im Krieg der Tod.

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