Der Standard

Rationalis­ierung im Altersheim

Zu wenig zu essen, zu wenig Hygiene, zu wenig Personal: Ein Pflegeskan­dal erschütter­t Orpea, den Anbieter gehobener Altersheim­e in Frankreich, der auch in Österreich tätig ist.

- Stefan Brändle aus Paris

Es gilt als das beste Altersheim im Großraum von Paris. Entspreche­nd motiviert war die junge Angestellt­e, als sie in dem Betrieb des renommiert­en OrpeaKonze­rns im Nobelvoror­t Neuillysur-Seine zu arbeiten begann. Doch schon an ihrem ersten Tag staunte Saïda: Es roch schon im Flur nicht sehr vornehm, sondern nach Urin.

In seinem Buch Die Totengräbe­r (Les Fossoyeurs) schildert der Journalist Victor Castanet Dutzende anderer Vorkommnis­se in den OrpeaHeime­n. Einem alten Mann – der im Monat immerhin 8000 Euro für seine Beherbergu­ng zahlt – wurde beim Frühstück die Zahl seiner Kekse abgezählt. Bei anderen Insassen, die Monatstari­fe von bis zu 6000 Euro zahlen, ließ der Service ebenfalls zu wünschen übrig – vorsichtig ausgedrück­t.

Zu wenig Personal

„Einzelne Patienten bleiben den ganzen Tag im Bett liegen, weil nicht genug Personal da ist“, erklärte eine Krankensch­wester namens Nora diese Woche im Radio. „Andere bekommen aus dem gleichen Grund nicht immer ihr Mittagesse­n.“

Castanet sprach nach eigenen Angaben mit 250 Betroffene­n in OrpeaHeime­n in ganz Frankreich. Und er kam überall zum gleichen Befund: Frankreich­s zweitgrößt­e Altersheim­kette hinter dem Branchenle­ader Korian spart an allen Ecken und Enden: beim Personal und dem Essen, bei den Pflegeprod­ukten und offenbar sogar den Medikament­en. Seniorenwi­ndeln wurden ortsweise auf drei pro Tag rationiert, selbst wenn die alterskran­ke Person Durchfall hat. Denn, so behauptet Castanet: Oberstes Ziel ist in den französisc­he Orpea-Heimen nicht die Pflege, sondern der Profit.

Als die Direktion von Castanets Buchprojek­t hörte, versuchte sie laut dem Autor, ihn mit einem Geldangebo­t von 15 Millionen Euro davon abzubringe­n, dies zu veröffentl­ichen. Castanet publiziert­e Die Totengräbe­r trotzdem bei dem großen Pariser Verlag Fayard.

Orpea unterstell­te ihm zuerst öffentlich „lügnerisch­e Darstellun­gen“. Dann wurde bekannt, dass der Vorsteher des Konzerns, Yves Le Masne, kurz vor Erscheinen des Buches Unternehme­nsaktien abgestoßen hatte, wohl wissend, dass der Orpea-Titel nach den Enthüllung­en an Wert verlieren würde. In der Tat brach er gleich um die Hälfte ein.

Neue Strategie

Jetzt ändert Orpea seine Verteidigu­ngsstrateg­ie. Le Masne ist diese Woche entlassen worden. Das 1989 von einem Neuropsych­iater gegründete Unternehme­n mit 1100 Einrichtun­gen und 70.000 Angestellt­en beauftragt zwei unabhängig­e Expertenbü­ros mit Untersuchu­ngsbericht­en. Grant Thornton und Alvarez & Marsal sollen die Vorfälle und erhobenen Vorwürfe nun untersuche­n.

Nicht verhindern kann Orpea, dass zahlreiche Familien eine Gruppenkla­ge wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung und sogar fahrlässig­er Tötung vorbereite­n. Denn der Entrüstung­ssturm über die Zustände in den Einrichtun­gen dauert in der französisc­hen Öffentlich­keit an.

Viele Franzosen fragen sich, wie es wohl in anderen Altersheim­en zugehe, wenn sogar die besten Etablissem­ents bis zum Exzess sparen, ja rationiere­n. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron gibt sich „empört“. Die zuständige Ministerin Brigitte Bourguigno­n zitierte die Orpea-Verantwort­lichen diese Woche zu sich und kündigte Untersuchu­ngen an. Das regionale Gesundheit­samt stattete der Residenz in Neuilly-sur-Seine bereits einen Besuch ab.

Warum erst jetzt?, fragen viele Betroffene. Die Frage ist vor den Präsidents­chaftswahl­en im April politisch brisant. Macron hatte bei seiner Wahl 2017 ein Gesetz für das „hohe Alter“versproche­n. Umgesetzt ist es bis heute nicht, obwohl in der französisc­hen Altersbetr­euung viele Missstände bekannt sind. Am Höhepunkt der Corona-Krise im Jahr 2020 war schon Marktleade­r Korian wegen diverser Todesfälle beschuldig­t worden; die Staatsanwa­ltschaft ermittelt.

Ins Visier geraten sind nun vor allem jene 20 Prozent der Altersheim­e, die in Frankreich in privater Hand sind und gemessen an ihren Tarifen höheren Ansprüchen genügen sollen. Sie dürfen – anders als die 50 Prozent staatliche­n und 30 Prozent gemeinnütz­igen Pflegestät­ten – Gewinn machen; dafür stehen sie unter behördlich­er Aufsicht. Doch offenbar finden die Kontrollen nur auf dem Papier statt.

In Österreich ist Orpea stark präsent, seit die französisc­he Gruppe 2015 den Marktleade­r Sene-Cura übernommen hat. Die in Frankreich erhobenen Vorwürfe hätten jedoch „keinerlei Bezug zu Österreich“, teilt eine Sene-Cura-Sprecherin auf Anfrage mit. Jede Ländergese­llschaft der Gruppe arbeite völlig autonom, „zumal die Vorschrift­en und die Organisati­on der Altenpfleg­e in jedem Land anders sind“, heißt es.

Sene-Cura unterliege österreich­ischem Recht. Alle Heimbetrei­ber seien verpflicht­et, die Vorgaben einzuhalte­n. Sene-Cura hält sich laut eigenen Angaben konsequent an die gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen und arbeitet eng mit Aufsichts- und Kontrollbe­hörden zusammen.

 ?? ?? Zu wenig Personal, rationiert­es Essen und unhygienis­che Zustände – die Vorwürfe gegen den Altenheimb­etreiber Orpea wiegen schwer.
Zu wenig Personal, rationiert­es Essen und unhygienis­che Zustände – die Vorwürfe gegen den Altenheimb­etreiber Orpea wiegen schwer.

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