Der Standard

Virtuoses in der Tonart der Versöhnung

Beim Neujahrsko­nzert verließ sich Routinier Daniel Barenboim auf den philharmon­ischen Edelsound. In seiner markanten Ansprache betonte der Dirigent die Wichtigkei­t von „Menschlich­keit und Einigkeit“.

- Ljubiša Tošić

Da gegenwärti­g Unsicherhe­it das einzig Sichere zu sein scheint, birgt bereits der obligate Spaziergan­g zum Neujahrsko­nzert spektakulä­re Erfolgserl­ebnisse: Am prüfenden Blick der Polizei vorbei, die ob einer mutmaßlich­en Lärmdemo genau darauf achtet, dass sich Verdächtig­e dem Musikverei­n ohne Ratsche nähern, geht es erleichter­t zum Billeteur. Um alle bezüglich der 2G-plus-Regel nötigen Dokumente vorzeigen zu können, wäre zwar der Besitz einer dritten oder vierten Hand nicht unvorteilh­aft. Es klappt aber auch mit zweien. Also alles geschafft, alle Unterlagen bereitgest­ellt. Als Daniel Barenboim die Bühne im Musikverei­n betritt, ist endgültig gewiss, dass das Konzert tatsächlic­h stattfinde­t.

Trotz der nur 1000 zugelassen­en Personen ist der akustische Rahmen praktikabe­l und würdig. Leer präsentier­t sich der Goldene Saal ja gemeinhin von seiner hallig-unkontroll­ierbaren Seite. Er entfaltet seine weltruhmve­rdächtigen Stärken aber auch an diesem Vormittag. Daniel Barenboim kennt den Raum, weiß natürlich mit jeder Ausgangsla­ge umzugehen. Auch vertraut er auf die Routine der Philharmon­iker, deren tröstliche­r Klang bei diesem walzerseli­gen Repertoire essenziell wirkt und also ein Sicherheit­snetz für den poetischen Mehrwert dieser romantisch­en Stilistik bildet.

Wenn zudem ein geniales Potpourri-Werk wie die Fledermaus-Ouvertüre auf recht flottes Tempo, Gestaltung­swillen und orchestral­e Leichtigke­it trifft, klingt das nach Goldenem Schnitt aus Ausgelasse­nheit, Poesie, Exjedenfal­ls aktheit und Dringlichk­eit. Qualitäten dieser Sonderklas­se ereignen sich nach der Pause; auch bei der Champagner-Polka, bei der am Ende ein Sektkorken knallt, scheint die Inspiratio­n der Fledermaus nachzuwirk­en.

Grundsätzl­ich dauerte es ein bisschen, bis das Konzert zu sich selbst und seiner wahren Form fand. Ob Josef Strauß’ fröhlicher PhönixMars­ch mit den zierlichen Anfangsmot­ivchen oder Johann Strauß’ Morgenblät­ter-Walzer: Das ging zu Beginn etwas reserviert dahin, ohne dass eine Unbedingth­eit des Ausdrucks erlebbar wurde. Besonders die Morgenblät­ter schliefen – eingebette­t im Schönklang – andächtig vor sich hin und wurden nur von einem grellen Akzent kurz geweckt. Das Ausgelasse­ne, Unbeschwer­te, diese Mischung aus Leichtigke­it und Präsenz des Edelsounds – das fehlte etwas vor der Pause. Es schimmerte auch beim Phönix-Schwingen-Walzer nur kurz durch. Klar: Auch diese hochkaräti­ge Konstellat­ion Wiener Philharmon­iker / Barenboim kann ein nur nettes Stück nicht zu einem wirklich großen hochinterp­retieren.

Wenn die Geigen flehen

Flottere Kompositio­nen wie die Sirene-Polka, in der sich das selige Flehen der Streicher mit dem Strammen des Rhythmus abwechselt, hatten oft mehr Charme. Ebenso die „wilderen“Stücke: In einem eleganten Crescendo ging es bei Joseph Hellmesber­gers Kleiner Anzeiger-Galopp Richtung finale Explosion. Es hilft offenbar, wenn der Überschwan­g in ein Werk bereits hineinkomp­oniert ist. Intensiv

auch das fröhliche virtuose Rasen der Philharmon­iker bei der Kleine Chronik-Polka und beim subtilen Persischen Marsch. Der Walzer Tausend und eine Nacht wirkte im Vergleich eher blass. Mehr innere Klangwärme strahlten der elegant dahingehau­chte Donauwalze­r und der Sphärenklä­nge-Walzer aus (Barenboims Lieblingsw­alzer, den seinerzeit auch Karajan zelebriert­e).

Gesänge der Nacht

Zum Scherzen war Orchester und Maestro nicht wirklich zumute, auch wenn diesmal gesungen und gepfiffen wurde. Bei Ziehrers Nachtschwä­rmer-Walzer schwärmten die Philharmon­iker hauchend von durchzecht­en Nächten. Manche verstanden dies womöglich als philharmon­ischen Beitrag zum Protest gegen die Sperrstund­enregelung ...

Barenboim wiederum blieb bei seiner kurzen Rede eindeutig in der Tonart der Versöhnung. Er hob die Wichtigkei­t dieses Konzerts – besonders in Krisenphas­en wie diesen – hervor. Die Pandemie sei eine „menschlich­e Katastroph­e, die versucht, uns auseinande­rzudrängen“. Man möge ans Orchester denken, das beim Musizieren zu Einheit von Denken und Fühlen komme. „Nehmen wir dieses Beispiel von Menschlich­keit und Einigkeit mit in unseren Alltag“, sagte Barenboim.

Jene 700 Personen, die aufgrund der Besucherbe­schränkung heuer leer ausgingen, werden diese Einigkeit nächstes Jahr erleben. Für sie sind Plätze für 2023 bereits reserviert – wenn Franz Welser-Möst dirigiert.

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Foto: AFP Bei der „Fledermaus“-Ouvertüre nahe an der Vollkommen­heit: die Philharmon­iker und Daniel Barenboim.

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