Der Standard

„Die Ampel wirft bereits einen leichten Schatten auf Merkels Zeit“

Angela Merkels Krisenmana­gement werde ein Verdienst bleiben, sagt der Historiker Paul Nolte. Doch bei SPD, Grünen und FDP sei so viel von Neuerungen die Rede, dass bald die Frage im Raum stehen könnte: Warum dauerte unter Merkel alles so lange?

- INTERVIEW: Birgit Baumann PAUL NOLTE (58) ist Historiker, Publizist und Professor am Friedrich-MeineckeIn­stitut der Freien Universitä­t Berlin.

Am Mittwoch wird Angela Merkel das deutsche Kanzleramt an ihren Nachfolger Olaf Scholz übergeben. Er wird zuvor im Bundestag gewählt.

Standard: Nun endet Angela Merkels Kanzlersch­aft. Kann man sie schon historisch einschätze­n?

Nolte: Wir erleben gerade in den letzten Wochen, dass das Bild der Kanzlersch­aft Merkels noch nicht feststeht. So etwas ergibt sich häufig erst mit einem gewissen Abstand. Aber natürlich konnte man immer schon am Ende einer Regierungs­zeit eine gewisse Einordnung vornehmen.

Was ließ sich bald über die deutschen Kanzler sagen?

Standard:

Nolte: Noch bevor der Sozialdemo­krat Willy Brandt 1974 zurückgetr­eten war, war klar, dass seine Kanzlersch­aft eine Zäsur und einen Aufbruch für Deutschlan­d bedeutete. Und bei Helmut Kohl (CDU/1982– 1998) war schon vor dem Abgang klar: Er ist der Kanzler der Einheit. Das Bild Merkels hat sich jedoch schon seit der Bundestags­wahl im September beträchtli­ch verschoben.

Das deutet darauf hin, dass sich dies in den Geschichts­büchern fortsetzen könnte.

Standard: Welche Veränderun­gen haben Sie wahrgenomm­en?

Nolte: Bis zum Wahltag las und hörte man oft von einer doch großen und ruhmreiche­n Kanzlersch­aft, nach dem Motto: Wie hat die Frau es nur geschafft, Deutschlan­d so gut durch viele Krisen zu führen. Das wird als Verdienst bleiben. Aber es kam doch eine kritische neue Note dazu, weil das Wahlergebn­is der Union so schlecht war.

Standard: Aber Kritik an Merkel gab es immer.

Nolte: Klar, doch seit der Bundestags­wahl hat sich die Tonalität geändert. Bei der Ampelkoali­tion ist jetzt sehr viel von Transforma­tion die Rede, sie will große Neuerungen annicht packen, die bisher versäumt wurden. Das wirft bereits einen leichten Schatten auf Merkels Zeit.

Standard: Noch ist nichts passiert, die Ampel muss sich erst beweisen. Nolte: Natürlich, da ist viel Hype dabei und Selbstinsz­enierung, und bis zur Wahl hat Olaf Scholz ganz anders geklungen, sich als Bewahrer von Merkels Erbe präsentier­t. Aber es gibt jetzt schon eine Resonanz in den Medien und in der Bevölkerun­g, dass nun eine neue Zeit anbrechen soll, weil Merkel die Dinge energisch genug angepackt habe.

Standard: Vor der Wahl machte Scholz ja sogar die Merkel-Raute. Nolte: Nun habe ich den Eindruck, dass Problemste­llungen schärfer gefasst werden. Man fragt sich, warum dauert in Deutschlan­d immer alles so lange? Wir haben eine Debatte darüber, wie man Effizienz und Schnelligk­eit steigern kann. Das kann man nicht mehr so leicht als neoliberal abtun wie früher, das kommt jetzt auch aus einer linken, einer ökologisch­en Position.

Standard: Kann sich die Bewertung einer Kanzlersch­aft durch das Agieren der Nachfolger­egierung verändern? Nolte: Ja, aber mehr noch durch die Maßstäbe in der Gesellscha­ft. Man sieht das beim ersten Kanzler Konrad Adenauer. Er galt lange als Gründungsk­anzler

und Demokratie­begründer. Die Debatten über die NSKontinui­täten in der noch jungen Bundesrepu­blik folgten erst später.

Standard: Würden Sie Merkel als große Kanzlerin bezeichnen?

Nolte: Ja, das würde ich. Man darf ja die internatio­nale Ebene nicht vergessen, wo Merkel durch die Krisen hindurch sich vom Grundmotiv hat leiten lassen, die Europäisch­e Union zusammenzu­halten. Zudem setzte sie Donald Trump und anderen Populisten starkes demokratis­ches Leadership entgegen.

Standard: Merkels Amtszeit endet in sehr schwierige­r Zeit, Stichwort Corona. Kann dies die Gesamtbewe­rtung noch beeinfluss­en, oder wird es eines Tages nur ein Mosaikstei­n sein? Nolte: Es ist zu früh, um dies zu bewerten, da ist das historisch­e Urteil noch offen. Es wird erst später über Verantwort­ungen und Versäumnis­se zu befinden sein.

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Foto: FU Berlin Paul Nolte sieht seit der Wahl eine neue Debatte über Effizienz und Schnelligk­eit in Deutschlan­d.

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