„Die Ampel wirft bereits einen leichten Schatten auf Merkels Zeit“
Angela Merkels Krisenmanagement werde ein Verdienst bleiben, sagt der Historiker Paul Nolte. Doch bei SPD, Grünen und FDP sei so viel von Neuerungen die Rede, dass bald die Frage im Raum stehen könnte: Warum dauerte unter Merkel alles so lange?
Am Mittwoch wird Angela Merkel das deutsche Kanzleramt an ihren Nachfolger Olaf Scholz übergeben. Er wird zuvor im Bundestag gewählt.
Standard: Nun endet Angela Merkels Kanzlerschaft. Kann man sie schon historisch einschätzen?
Nolte: Wir erleben gerade in den letzten Wochen, dass das Bild der Kanzlerschaft Merkels noch nicht feststeht. So etwas ergibt sich häufig erst mit einem gewissen Abstand. Aber natürlich konnte man immer schon am Ende einer Regierungszeit eine gewisse Einordnung vornehmen.
Was ließ sich bald über die deutschen Kanzler sagen?
Standard:
Nolte: Noch bevor der Sozialdemokrat Willy Brandt 1974 zurückgetreten war, war klar, dass seine Kanzlerschaft eine Zäsur und einen Aufbruch für Deutschland bedeutete. Und bei Helmut Kohl (CDU/1982– 1998) war schon vor dem Abgang klar: Er ist der Kanzler der Einheit. Das Bild Merkels hat sich jedoch schon seit der Bundestagswahl im September beträchtlich verschoben.
Das deutet darauf hin, dass sich dies in den Geschichtsbüchern fortsetzen könnte.
Standard: Welche Veränderungen haben Sie wahrgenommen?
Nolte: Bis zum Wahltag las und hörte man oft von einer doch großen und ruhmreichen Kanzlerschaft, nach dem Motto: Wie hat die Frau es nur geschafft, Deutschland so gut durch viele Krisen zu führen. Das wird als Verdienst bleiben. Aber es kam doch eine kritische neue Note dazu, weil das Wahlergebnis der Union so schlecht war.
Standard: Aber Kritik an Merkel gab es immer.
Nolte: Klar, doch seit der Bundestagswahl hat sich die Tonalität geändert. Bei der Ampelkoalition ist jetzt sehr viel von Transformation die Rede, sie will große Neuerungen annicht packen, die bisher versäumt wurden. Das wirft bereits einen leichten Schatten auf Merkels Zeit.
Standard: Noch ist nichts passiert, die Ampel muss sich erst beweisen. Nolte: Natürlich, da ist viel Hype dabei und Selbstinszenierung, und bis zur Wahl hat Olaf Scholz ganz anders geklungen, sich als Bewahrer von Merkels Erbe präsentiert. Aber es gibt jetzt schon eine Resonanz in den Medien und in der Bevölkerung, dass nun eine neue Zeit anbrechen soll, weil Merkel die Dinge energisch genug angepackt habe.
Standard: Vor der Wahl machte Scholz ja sogar die Merkel-Raute. Nolte: Nun habe ich den Eindruck, dass Problemstellungen schärfer gefasst werden. Man fragt sich, warum dauert in Deutschland immer alles so lange? Wir haben eine Debatte darüber, wie man Effizienz und Schnelligkeit steigern kann. Das kann man nicht mehr so leicht als neoliberal abtun wie früher, das kommt jetzt auch aus einer linken, einer ökologischen Position.
Standard: Kann sich die Bewertung einer Kanzlerschaft durch das Agieren der Nachfolgeregierung verändern? Nolte: Ja, aber mehr noch durch die Maßstäbe in der Gesellschaft. Man sieht das beim ersten Kanzler Konrad Adenauer. Er galt lange als Gründungskanzler
und Demokratiebegründer. Die Debatten über die NSKontinuitäten in der noch jungen Bundesrepublik folgten erst später.
Standard: Würden Sie Merkel als große Kanzlerin bezeichnen?
Nolte: Ja, das würde ich. Man darf ja die internationale Ebene nicht vergessen, wo Merkel durch die Krisen hindurch sich vom Grundmotiv hat leiten lassen, die Europäische Union zusammenzuhalten. Zudem setzte sie Donald Trump und anderen Populisten starkes demokratisches Leadership entgegen.
Standard: Merkels Amtszeit endet in sehr schwieriger Zeit, Stichwort Corona. Kann dies die Gesamtbewertung noch beeinflussen, oder wird es eines Tages nur ein Mosaikstein sein? Nolte: Es ist zu früh, um dies zu bewerten, da ist das historische Urteil noch offen. Es wird erst später über Verantwortungen und Versäumnisse zu befinden sein.