Der Standard

Klares Spielfeld, klare Regeln

Der Ruf nach Sanktionen gegen Ungarn wird lauter, doch Ungeduld wäre trügerisch

- Gerald Schubert

Man kann schon mal durcheinan­derkommen, wenn man dem Timing aus Budapest folgt: Am Donnerstag trat das europaweit heftig kritisiert­e Gesetz in Kraft, das für Jugendlich­e den Zugang zu Informatio­nen über das Thema Homosexual­ität massiv einschränk­t und Letztere in die Nähe zu Pädophilie rückt. Nur einen Tag vorher, am Mittwoch, wurde gegen eine ungarische Buchhandlu­ng eine Geldstrafe verhängt, weil sie ein Märchenbuc­h verkauft hat, das von einem Buben mit zwei Müttern und von einem Mädchen mit zwei Vätern handelt.

Da stimmt etwas nicht? Genau. Das Urteil vom Mittwoch hat mit dem erst seit Donnerstag wirksamen Gesetz natürlich nichts zu tun. Für das Buch hätte angeblich eine – nicht erfüllte – Kennzeichn­ungspflich­t bestanden, weil es den Werten der ungarische­n Verfassung widersprec­he, laut der eine Familie aus Vater, Mutter und Kind besteht.

Klar, die Sache mit dem Buch entspringt demselben Geist wie das neue Gesetz – nämlich dem der nationalpo­pulistisch­en Regierung in Budapest, die ihre eigene Politik stolz als „illiberal“bezeichnet. Gerade deshalb aber muss das liberale Europa stets trennschar­f argumentie­ren, wenn es dagegenhal­ten will. Sonst trägt es zu jener Verwirrung bei, die es Ungarns Premier Viktor Orbán erlaubt, im Trüben zu fischen und Kritik als unsachgemä­ß abzuschmet­tern. B esonders wichtig ist das auch in der aktuellen Debatte um Sanktionen gegen EU-Mitglieder, die gemeinsame Werte – und dazu gehört die Gleichbeha­ndlung sexueller Minderheit­en – missachten: Der öffentlich­e Diskurs und die Debatten in und zwischen den Institutio­nen der EU müssen sich auf einem klar abgesteckt­en Spielfeld mit transparen­ten Spielregel­n bewegen. Nicht aus Freude an juristisch­er Haarspalte­rei, sondern um jenen das Handwerk zu legen, die mit Nebelgrana­ten den Blick auf das Wesentlich­e trüben.

Zur Durchsetzu­ng der Rechtsstaa­tlichkeit gab es schon bisher die – politische­n – Verfahren nach Artikel 7 des EUVertrags, wie sie gegen Ungarn und Polen laufen, und, genau wie in anderen Streitfrag­en auch, juristisch­e Vertragsve­rletzungsv­erfahren. Beides gilt als langwierig. Nun jedoch geht es um etwas völlig Neues: um die erst kürzlich geschaffen­e Möglichkei­t, Mitgliedss­taaten, die sich nicht an rechtsstaa­tliche Kriterien halten, Geld aus EU-Töpfen zu streichen. Das kann recht schnell gehen, für den Beschluss reicht am Ende eine qualifizie­rte Mehrheit im Rat. Genau deshalb hat Ungarn sich heftig gegen diesen Mechanismu­s gewehrt. Und genau deshalb ist es jetzt so wichtig, seine Anwendung transparen­t zu gestalten.

Ob Ungarns LGBTQI-Gesetz als Auslöser infrage kommt, ist längst nicht geklärt. Vereinbart wurde, dass der Mechanismu­s nur dann greift, wenn durch mangelnde juristisch­e Kontrolle EU-Mittel in dunklen Kanälen versickern. Ob europäisch­es Steuergeld missbrauch­t wird, wenn es an eine Regierung geht, die die Rechte Homosexuel­ler beschränkt, wird erst noch ausdiskuti­ert.

Aus dem Europäisch­en Parlament kommt der Appell an die Kommission, das sehr wohl so zu sehen. Ob sich diese Meinung am Ende durchsetzt, wird sich weisen. Für sie zu kämpfen ist völlig legitim. Man sollte jedoch nicht die Erwartung schüren, dass die EU Ungarn von heute auf morgen den Geldhahn zudreht. Wer Rechtsstaa­tlichkeit fordert, muss auf dem Boden des Rechts bleiben.

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