Der Kane war ihr Schicksal
England kam durch einen „VAR-scheinlich“umstrittenen, von Harry Kane im Nachschuss verwandelten Elfer ins „Finale dahoam“. Dort aber, in Wembley, wartet mit Italien ein Team mit neuen Stärken. Ein würdiges Finale ist es allemal.
So! Das haben sie also davon! Was ist nicht alles geredet worden über den Zuwachs an Gerechtigkeit, als alle dem VAR, dem Video Assistant Referee das, Wort geredet haben. Und jetzt fährt Kasper Hjulmand so heim nach Kopenhagen: „In einem solchen Spiel so zu verlieren ist einfach bitter. Es fühlt sich nicht gerecht an. Das ist etwas, das mich wütend macht.“
Kasper Hjumand ist Trainer der dänischen Nationalmannschaft. Und er musste sehen, dass in der ersten Halbzeit der Verlängerung Raheem Sterling im dänischen Strafraum fiel (gefoult wurde). „Es ist ganz klar, dass er sein Bein hängen lässt und hinfällt“, sah Hjulmand, „ich denke, der Elfer war zu hart.“
Harry Kane, ein Heißsporn aus Tottenham, bezwang den herausragenden Kasper Schmeichel im Nachschuss. Dass der dänische Goalie dabei von einem Laserpointer anvisiert worden war, hat die VARs nicht zu kümmern. Jetzt wird „untersucht“. Schmeichels Teamkollege Martin Braithwaite sagt: „Das ist nicht ganz fair abgelaufen. Aber ich muss vorsichtig sein, was ich sage.“Die europäische Fußballunion Uefa, sowieso verstrickt in sich selber, kann im Fall des Falles auch recht unwirsch, cancelnd, sein.
Was Elfer ist
Früher, als die Wirklichkeit weder Perspektivwechsel noch Zeitlupe brauchte, hieß es: „Elfer ist, was der Schiri pfeift!“Und es wäre, nach den Aufgeregtheiten der dritten Halbzeit, übers vorangegangene Spiel geredet worden. Dass den Dänen beinahe ein neuerliches Wunder gelungen wäre: So kraftvoll und entschlossen warfen sie sich ins Gefecht!
Dass die Engländer – seit 1966 nicht mehr in einem großen Finale – vom dänischen Geist beeindruckt waren, konnte man sehen. Mikkel Damsgaard sorgte mit einem famosen Freistoß denn auch in der 30. Minute fürs 1:0. Teamkollege Simon Kjaer aber neun Minuten später für den Ausgleich. Es war das bereits elfte Eigentor des Turniers. Bei diesem 1:1 blieb es bis zur ominösen 104. Minute, da Kane der Dänen Schicksal wurde.
Boris Johnson drehte – und das ist jetzt verständnisvoll, nicht despektierlich gemeint – durch. Der Prinz auch. Und David Beckham, einer unter den 65.000 Zuschauern, denen das Virus sowas von etwas war, das die österreichische Zunge „Powidl“nennt oder „Blunzn“.
Selbst der so coole Gareth Southgate verlor für einen Augenblick die Contenance, als der mit allen dänischen Flüchen belegte niederländische Schiri Danny Makkelie abpfiff nach 120 Minuten. „Wir haben es verdient. Dass wir dem Land und den Menschen so viel Freude bereiten können, ist sehr speziell für uns.“Selbst der Mirror schrie in all seiner TabloidCoolness: „ENDLICH! Nach 55 Jahren voller Schmerz: Jetzt macht euch unsterblich wie das Team von 1966.“
Damals, im WM-Finale gegen Deutschland, gab es freilich noch keinen VAR. Und deshalb das bis heute viel besprochene Wembleytor. Jetzt aber gibt es VAR. Da kann sowas nicht passieren. Es sei denn der Schiri pfiffe es. Und da sei VAR vor.
Musealer Catenaccio
Am Sonntag ab 21 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit wird – neuerlich in Wembley – das Turnier zu Ende gehen. Gastgeber England wird sich dabei gegen Italien zu bewähren haben. Das ist – über alle VAR-scheinlichkeiten hinweg – ein würdiges Finale. Italien hat sich unter Roberto Mancini gewissermaßen neu erfunden. Das war, schon in der Vorrunde, eine Überraschung: Der Catenaccio hat seinen Weg ins Museum gefunden.
Die Engländer unter Gareth Southgate haben schon bei der WM in Russland aufgezeigt. Southgate ist es mit sehr viel Feinarbeit gelungen, aus einem traditionellen Flohhaufen tatsächlich ein Team, fast eine Mannschaft, zu formen. Kann gut sein, dass da der Man of the Tournament zugange ist: Raheem Sterling von Manchester City, der nicht nur extrem antrittsschnell, extrem dribbelstark, extrem vielseitig ist; sondern eben auch extrem hinfällig im Fall des Falles. Ein Allrounder.
Dino Zoff, Nationalgoalie von 1968 bis 1982 und Nationalcoach von 1998 bis 2000, sieht seine Italiener im Vorteil. Und sogar eher am Anfang: „Unter Mancinis Regie sind die Azzurri wieder auferstanden. Das beweist auch die lange Länderspiel-Erfolgsserie. Mancini hat ein offensives Spiel aufgebaut, Italien ist längst nicht mehr nur Catenaccio. Jetzt kann eine erfolgreiche neue Ära beginnen.“
Für die Engländer allerdings auch. Boris Johnson machte auf Twitter keine Mördergrube aus seinem Herz: „Was für eine fantastische Leistung. Jetzt auf zum Finale. Lasst uns das Ding nach Hause holen."“