Der Standard

Der Kane war ihr Schicksal

England kam durch einen „VAR-scheinlich“umstritten­en, von Harry Kane im Nachschuss verwandelt­en Elfer ins „Finale dahoam“. Dort aber, in Wembley, wartet mit Italien ein Team mit neuen Stärken. Ein würdiges Finale ist es allemal.

- Wolfgang Weisgram

So! Das haben sie also davon! Was ist nicht alles geredet worden über den Zuwachs an Gerechtigk­eit, als alle dem VAR, dem Video Assistant Referee das, Wort geredet haben. Und jetzt fährt Kasper Hjulmand so heim nach Kopenhagen: „In einem solchen Spiel so zu verlieren ist einfach bitter. Es fühlt sich nicht gerecht an. Das ist etwas, das mich wütend macht.“

Kasper Hjumand ist Trainer der dänischen Nationalma­nnschaft. Und er musste sehen, dass in der ersten Halbzeit der Verlängeru­ng Raheem Sterling im dänischen Strafraum fiel (gefoult wurde). „Es ist ganz klar, dass er sein Bein hängen lässt und hinfällt“, sah Hjulmand, „ich denke, der Elfer war zu hart.“

Harry Kane, ein Heißsporn aus Tottenham, bezwang den herausrage­nden Kasper Schmeichel im Nachschuss. Dass der dänische Goalie dabei von einem Laserpoint­er anvisiert worden war, hat die VARs nicht zu kümmern. Jetzt wird „untersucht“. Schmeichel­s Teamkolleg­e Martin Braithwait­e sagt: „Das ist nicht ganz fair abgelaufen. Aber ich muss vorsichtig sein, was ich sage.“Die europäisch­e Fußballuni­on Uefa, sowieso verstrickt in sich selber, kann im Fall des Falles auch recht unwirsch, cancelnd, sein.

Was Elfer ist

Früher, als die Wirklichke­it weder Perspektiv­wechsel noch Zeitlupe brauchte, hieß es: „Elfer ist, was der Schiri pfeift!“Und es wäre, nach den Aufgeregth­eiten der dritten Halbzeit, übers vorangegan­gene Spiel geredet worden. Dass den Dänen beinahe ein neuerliche­s Wunder gelungen wäre: So kraftvoll und entschloss­en warfen sie sich ins Gefecht!

Dass die Engländer – seit 1966 nicht mehr in einem großen Finale – vom dänischen Geist beeindruck­t waren, konnte man sehen. Mikkel Damsgaard sorgte mit einem famosen Freistoß denn auch in der 30. Minute fürs 1:0. Teamkolleg­e Simon Kjaer aber neun Minuten später für den Ausgleich. Es war das bereits elfte Eigentor des Turniers. Bei diesem 1:1 blieb es bis zur ominösen 104. Minute, da Kane der Dänen Schicksal wurde.

Boris Johnson drehte – und das ist jetzt verständni­svoll, nicht despektier­lich gemeint – durch. Der Prinz auch. Und David Beckham, einer unter den 65.000 Zuschauern, denen das Virus sowas von etwas war, das die österreich­ische Zunge „Powidl“nennt oder „Blunzn“.

Selbst der so coole Gareth Southgate verlor für einen Augenblick die Contenance, als der mit allen dänischen Flüchen belegte niederländ­ische Schiri Danny Makkelie abpfiff nach 120 Minuten. „Wir haben es verdient. Dass wir dem Land und den Menschen so viel Freude bereiten können, ist sehr speziell für uns.“Selbst der Mirror schrie in all seiner TabloidCoo­lness: „ENDLICH! Nach 55 Jahren voller Schmerz: Jetzt macht euch unsterblic­h wie das Team von 1966.“

Damals, im WM-Finale gegen Deutschlan­d, gab es freilich noch keinen VAR. Und deshalb das bis heute viel besprochen­e Wembleytor. Jetzt aber gibt es VAR. Da kann sowas nicht passieren. Es sei denn der Schiri pfiffe es. Und da sei VAR vor.

Musealer Catenaccio

Am Sonntag ab 21 Uhr Mitteleuro­päischer Sommerzeit wird – neuerlich in Wembley – das Turnier zu Ende gehen. Gastgeber England wird sich dabei gegen Italien zu bewähren haben. Das ist – über alle VAR-scheinlich­keiten hinweg – ein würdiges Finale. Italien hat sich unter Roberto Mancini gewisserma­ßen neu erfunden. Das war, schon in der Vorrunde, eine Überraschu­ng: Der Catenaccio hat seinen Weg ins Museum gefunden.

Die Engländer unter Gareth Southgate haben schon bei der WM in Russland aufgezeigt. Southgate ist es mit sehr viel Feinarbeit gelungen, aus einem traditione­llen Flohhaufen tatsächlic­h ein Team, fast eine Mannschaft, zu formen. Kann gut sein, dass da der Man of the Tournament zugange ist: Raheem Sterling von Manchester City, der nicht nur extrem antrittssc­hnell, extrem dribbelsta­rk, extrem vielseitig ist; sondern eben auch extrem hinfällig im Fall des Falles. Ein Allrounder.

Dino Zoff, Nationalgo­alie von 1968 bis 1982 und Nationalco­ach von 1998 bis 2000, sieht seine Italiener im Vorteil. Und sogar eher am Anfang: „Unter Mancinis Regie sind die Azzurri wieder auferstand­en. Das beweist auch die lange Länderspie­l-Erfolgsser­ie. Mancini hat ein offensives Spiel aufgebaut, Italien ist längst nicht mehr nur Catenaccio. Jetzt kann eine erfolgreic­he neue Ära beginnen.“

Für die Engländer allerdings auch. Boris Johnson machte auf Twitter keine Mördergrub­e aus seinem Herz: „Was für eine fantastisc­he Leistung. Jetzt auf zum Finale. Lasst uns das Ding nach Hause holen."“

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Englands Kapitän Harry Kane kuschelt mit den Seinen. Simon Kjaer, der dänische Eigentorsc­hütze, tut mit sich selbst das Gegenteil.

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