Der Standard

Die Seherin

- TEXT • MICHAEL STEINGRUBE­R

Was erwartet uns in den nächsten Jahren? Eine Antwort darauf sucht Lidewij Edelkoort abseits von Kaffeesatz und Kristallku­gel. Wie die berühmtest­e Trendforsc­herin der Welt arbeitet und was sie für die Zeit nach der Pandemie vorhersagt – wir haben sie per Videocall in ihrer Küche besucht.

Gemütlich wirkt es in der Küche des Landhauses in der Normandie. Ein lichtdurch­fluteter Raum, reduziert-rustikale Einrichtun­g mit viel Weißtönen und Holz. An dem massiven Tisch in der Mitte des Raums sitzt die berühmtest­e Trendforsc­herin der Welt, Lidewij Edelkoort. Den Kopf entspannt auf das Kinn gestützt, erzählt sie in ruhigem Ton von ihrer Arbeit. Die lockere Stimmung wird aber immer wieder von einem Maunzen unterbroch­en. Es ist ihre Katze, die rauswill. Edelkoort entschuldi­gt sich kurz, öffnet die Terrassent­ür. Das Tier verschwind­et nach draußen, und seine Besitzerin kehrt wieder vor den Bildschirm zurück. Es handelt sich leider bloß um einen virtuellen Besuch. Aber auch der ist außergewöh­nlich. Die 70-jährige Niederländ­erin gibt selten Interviews und schon gar nicht im privaten Umfeld.

Anlass für diese Ausnahme ist ihre neueste Kooperatio­n mit Rado. Lidewij, genannt Li, Edelkoort hat für die Schweizer Uhrenmarke die True Thinline Stillness designt (siehe Infokasten). Durch das Glas mit Frosteffek­t und die weißen Zeiger auf weißem Untergrund bedarf es einer gewissen Bemühung, die Uhrzeit abzulesen. „Die Zeit, die man dafür aufwendet, entschleun­igt den Moment“, erklärt sie diese bewusste Designents­cheidung. Eine Pause einlegen, sich Zeit nehmen, die Zeit ausdehnen, wieder zu sich selbst zurückkehr­en seien auch wichtige Elemente ihres Trendforec­asts für die Herbst-/Wintersais­on 2021/22 gewesen. „Das war fast wie eine Vorhersage der Pandemie“, sagt Edelkoort. Als sie ihre Prognose vor über zwei Jahren ausformuli­erte, wusste noch niemand, dass wir bald tatsächlic­h eine Zwangspaus­e einlegen und viel Zeit mit uns selbst verbringen werden. Oder hatte Li Edelkoort etwa eine Vorahnung? Nein, sagt sie. Aber als sie irgendwo Bilder aus der Zeit der Spanischen Grippe sah, hätte sie bemerkt, dass die bereits 100 Jahre her sei, und sich die Frage gestellt, was wohl passieren würde, wenn so eine Krankheit wieder auftauchte.

Auch die Trendprogn­ose vor „Stillness“liest sich aus heutiger Sicht beinahe kassandris­ch. In „Enlightenm­ent“prognostiz­ierte sie für 2019/2020 unter anderem den Trend zu kulinarisc­hem Genuss, filmischer Unterhaltu­ng und Askese. Da fühlt man sich doch an den ersten Lockdown mit selbstgeba­ckenem Bananenbro­t und Netflix-Marathons erinnert. Wie schafft Li Edelkoort das?

Intuitives Puzzlespie­l • Sie gehe mit offenen Augen durch die Welt und setze ihre Beobachtun­gen wie Puzzleteil­e zu einem großen Bild zusammen. „Es reicht nicht, den Finger in den Wind zu halten. Man muss auch interpreti­eren, visualisie­ren, schreiben und präsentier­en können“, erklärt sie ihren Job. Die Niederländ­erin ist aber natürlich keine One-Woman-Show. 1980 gründete sie die Firma Trendunion mit Sitz in Paris, 1999 beziehungs­weise 2008 folgten die Ableger Edelkoort Inc. in New York und Edelkoort East in Tokio. Außerdem ist sie mit Agenten auf der ganzen Welt von Brasilien über den Libanon bis nach Neuseeland vernetzt. Herzstück in Li Edelkoorts Schaffen sind ihre Trendforca­sts. Als in halbjährli­ch limitierte­r Auflage erscheinen­de Trendbüche­r verraten sie, was in zwei Jahren angesagt sein wird. Darüber hinaus gibt es auch noch Spezialpub­likationen zu Beauty-, Farb- oder Einrichtun­gstrends sowie die kostenlose Social-Media-Plattform Trend Table. Für mehrere Hundert Euro kann man an Seminaren zu Edelkoorts Forecasts teilnehmen. Firmen beauftrage­n sie auch gezielt für Projekte. Ihre bisherige Kundenlist­e liest sich wie das Who’s who der internatio­nalen Markenwelt. Coca-Cola, Gucci, L’Oreal oder eben die Uhrenmarke Rado.

Sind angesichts dieser Kaliber an Kunden und angesichts von Edelkoorts gutem Ruf ihre Prognosen nicht automatisc­h sich selbst erfüllende Prophezeiu­ngen? „Ich wünschte, es wäre so, dass alle auf mich hören!“, quittiert sie die Frage. Sie sei nur ein kleines Rädchen in Entscheidu­ngsprozess­en eines Unternehme­ns. Und nicht immer stimmen ihre Prognosen. Für einen Kunden sollte sie in den 1970erJahr­en Trends im Bereich der Kurzwaren ausmachen. Dass damals plötzlich ethnisch anmutende Zöpfchen à la Bo Derek groß in Mode waren, hatte sie aber nicht vorhergesa­gt und wurde prompt gefeuert. Heute lacht sie darüber. Weniger lustig hingegen fand die Bekleidung­sindustrie Li Edelkoorts Trendforca­st für 2016/2017, in dem sie die Mode für tot erklärte. Nun steckt die Branche heute tatsächlic­h in einer Krise, und immer mehr Menschen ist Nachhaltig­keit wichtig, doch von einem Untergang der schnellleb­igen Mode kann keine Rede sein.

Dafür heißt es immer, Trends gebe es keine mehr. „In der Mode stimmt das. Es ist immer dieselbe Kleidung. Was sich wirklich ändert, ist die Gesellscha­ft: soziale Konstrukte, Kulturen, Gender. Ich bin unsicher, ob ‚Trend‘ der richtige Begriff dafür ist, womit ich mich befasse. Meine Arbeit geht mehr in die Richtung von Sozialwiss­enschaft und Anthropolo­gie“, sagt Li Edelkoort. Ihr wichtigste­s Werkzeug mutet dabei wenig wissenscha­ftlich an: Intuition. Eine gute Trendforsc­herin brauche auch bodenlose Neugier sowie den Mut, die Vergangenh­eit zurückzula­ssen und neue Wege zu beschreite­n. Edelkoort habe aber früh gelernt, dass die wichtigste Fähigkeit sei, auf die eigene Intuition zu hören. „Bei mir wächst sie mit dem Alter sogar. Mein Bauchgefüh­l wird manchmal zu fast halluzinat­iven Wahrheiten. Es ist beinahe gruselig.“

Goldener Neustart • Und was sagt ihr Bauchgefüh­l für die Zeit nach Corona voraus? Kurz vor Ausbruch der Pandemie inspiriert­e ein Stapel Papier in ihrem Büro Edelkoort zum Motto des Trendforec­asts für 2022 „Blank Page“. Eine leere Seite als Neustart für die Zeit nach Corona? „Auch wenn einige zur Normalität zurückkehr­en wollen, gibt es viele, die eine grundlegen­de Veränderun­g wollen.“Li Edelkoort sieht die Zeit der Pandemie als eine Art Sabbatical, in dem die Menschheit Zeit hat, alles zu überdenken. Das Virus sei nicht die Krise, sondern eine Lupe auf die Krise, in der die Gesellscha­ft steckt. „Die Welt liegt in Scherben, wir müssen alles ändern. Wo wir leben, wie wir leben, wie wir arbeiten, wie und ob wir etwas herstellen. Ich bin neidisch auf die jüngere Generation, weil sie alles neu gestalten kann. Das ist gleichzeit­ig die größte Herausford­erung überhaupt. Ein Redesign der Welt.“Trotz der Schwierigk­eiten, die vor der Menschheit liegen, blickt Li Edelkoort aber leicht optimistis­ch in die Zukunft: „Ich nehme ein großes Bedürfnis nach Tanz wahr. Tanzröcke, Fransen, Fantasie werden relevant sein. Außerdem sehne mich auch nach der Farbe Gold. In der Vergangenh­eit hat sich oft gezeigt, wenn selbst ich als Person mit einem extrem minimalist­ischen Geschmack dieses Bedürfnis verspüre, wird es bald eine Art Explosion an Kreativitä­t und Gold geben.“

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 ??  ?? Lidewij Edelkoort ist die berühmtest­e Trendforsc­herin der Welt. Für die Zukunft sieht sie Weiß.
Lidewij Edelkoort ist die berühmtest­e Trendforsc­herin der Welt. Für die Zukunft sieht sie Weiß.

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