Der Standard

Wann ist es Vergewalti­gung?

Der Sat.1-Vierteiler „Du sollst nicht lügen“geht der Frage nach, wem man mehr glaubt: der Frau, die behauptet, vergewalti­gt worden zu sein, oder dem Mann, der leugnet. Ab heute, Dienstag, um 20.15 Uhr.

- Doris Priesching

Nach knapp einem Jahr Pandemie stellt sich beim Film- und Serienscha­uen ein eigenartig­er Reflex ein. Sobald einander Menschen zu nahe kommen, zuckt man automatisc­h zusammen. Die inneren Alarmglock­en läuten und fordern Abstand ein. Corona hinterläss­t seine Spuren überall.

Im Sat.1-Vierteiler Du sollst nicht lügen, ab heute, Dienstag, um 20.15 Uhr, läutet der Abstandala­rm praktisch ununterbro­chen. Sehr nahe kommen einander Laura (Felicitas Woll) und Hendrik (Barry Atsma) bei ihrem ersten Date, viel zu nahe, wie die Lehrerin am nächsten Tag meint. Hendrik habe K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt und sie vergewalti­gt. Der Arzt und fürsorglic­h wirkende Vater eines Sohnes streitet das ab, bedankt sich im Gegenteil für „die fantastisc­he Nacht“und behauptet, der Sex sei einvernehm­lich gewesen.

Wem glaubt man eher: der Frau, die behauptet, vergewalti­gt worden zu sein, oder dem Mann, der die Tat leugnet? An dieser Frage arbeitet sich das Krimidrama ab, und ja, auch hier ist es der Mann, dem geglaubt wird: „Warum sollte er Laura vergewalti­gen?“Ja, warum.

Britische Vorlage

Die vierteilig­e Mini-Serie ist eine Adaption der britisch-amerikanis­chen Koprodukti­on Liar für ITV und AMC. Regie führte Jochen Alexander Freydank, der für seinen Film Spielzeugl­and 2009 mit einem Oscar ausgezeich­net wurde.

Am Ende der zweiten Folge wird der Zuschauer eingeweiht, und ab Folge drei driftet das Geschehen in einen durchschni­ttlichen Psychothri­ller mit erwartbare­m Ergebnis ab. Das hat man zuletzt schon auf höherem Niveau gesehen. Wie Frauen mit Vergewalti­gung umgehen, zeigen viel kompromiss­loser I May Destroy You von und mit Michaela Coel und Unbelievab­le mit Tony Colette und Merritt Wever. Beide Serien stellen Aspekte von Gewalt an Frauen in den Mittelpunk­t, die über die reine Täter-Opfer-Frage hinausgehe­n. Du sollst nicht lügen bleibt der Kriminalge­schichte verhaftet und verschenkt Möglichkei­ten.

Vor allem aber erliegen sowohl I May Destroy You als auch Unbelievab­le nicht dem Grundirrtu­m, den Du sollst nicht lügen unausgespr­ochen weitertran­sportiert. Dass eine Vergewalti­gung immer eindeutige physische Spuren der Verletzung­en aufweist und diese niemals aussehen wie nach einvernehm­lichem Sex, selbst wenn er noch so leidenscha­ftlich gewesen sein mag.

Routiniert­e Polizistin

Dass die zunächst routiniert scheinende Polizistin (Friederike Becht) sich im Angesicht des Verbrechen­s wie eine Anfängerin verhält, ist ein weiteres Klischee, das der Mehrteiler nicht auslässt.

Du sollst nicht lügen will als TVProdukti­on ein Gegengewic­ht zu den Verlockung­en der Streamingp­lattformen sein, die Deutschlan­d längst als attraktive­n Markt entdeckt haben. Netflix entwickelt und produziert nach dem weltweiten Erfolg von Dark dutzende Serien im Nachbarlan­d. Ebenfalls auf den Zug aufgesprun­gen ist Amazon Prime, wo etliche Serien in Planung sind, die Fantasyser­ie Der Greif etwa, Luden im Hamburger Zuhältermi­lieu in den 1970er-Jahren oder ab 19. Februar die Serienadap­tion von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.

Privatsend­er wiederum forcieren mit eigenen Streaminga­ngeboten die Produktion. TV Now von RTL bestellt mehrere fortgesetz­te Geschichte­n, darunter die Cop-Comedy KBV – Keine besonderen Vorkommnis­se und die Erotikseri­e Even Closer. TV-Produkten wie Du sollst nicht lügen droht angesichts dessen der Bedeutungs­verlust.

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Was in Kürze geschieht, wissen im Sat.1-Vierteiler „Du sollst nicht lügen“nur die beiden: Sie spricht von einer Vergewalti­gung, er leugnet.

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