Der Standard

Warnung vor unsichtbar­em Viruswachs­tum

Der Lockdown ist gerade erst zu Ende, da steigen die Infektions­zahlen schon wieder. Derzeit handelt es sich nur um ein kleines Plus, doch Expertinne­n und Experten sind in Sorge – wegen der Virusmutan­ten.

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Das ursprüngli­ch genannte Ziel wurde verfehlt. Statt die Sieben-Tage-Inzidenz der Coronaviru­s-Neuinfekti­onen in Österreich, wie es die Bundesregi­erung angepeilt hatte, dauerhaft auf unter 100 zu drücken, hält das Land derzeit bundesweit bei einem Wert von 107, mit starken regionalen Differenze­n. Dem nicht genug: In den vergangene­n Tagen kurz vor Ende des sechswöchi­gen Lockdowns ist die Zahl sogar wieder leicht gestiegen.

Wesentlich niedriger setzen Expertinne­n und Experten die Schwelle an, unter der Lockerunge­n ohne großes Risiko massiver Fallzunahm­e erst möglich seien. Die deutsche Virologin Melanie Brinkmann etwa bezeichnet eine Abkehr von strengen Lockdown-Regeln bei einem Inzidenzwe­rt von 50 oder etwas weniger als „fatal“.

In einem Interview im Nachrichte­nmagazin Spiegel sieht die Wissenscha­fterin des Helmholtz-Zentrums für Infektions­forschung in Braunschwe­ig weitere schwere Zeiten auf die Bevölkerun­g zukommen – in weiten Teilen Europas und darüber hinaus. Zwar habe der ersehnte Impfstart inzwischen stattgefun­den, doch das sei kein Anlass zur Beruhigung: „Wir kriegen niemals genügend Menschen geimpft, bevor die Mutanten durchschla­gen.“

„Wunschdenk­en“

Der Wettlauf mit den Virusvaria­nten sei daher längst verloren: „Alles andere entspringt Wunschdenk­en, genährt von falschen Versprechu­ngen einiger Politiker“, sagt die Expertin, die eigenen Angaben zufolge Drohungen erhalten hat.

Brinkmann befürchtet, dass gegen Ostern, wenn ein Großteil der Hochrisiko­gruppe geimpft sei, die Rufe nach umfangreic­hen Lockerunge­n unüberhörb­ar werden. Gebe man diesen Wünschen dann statt, werde „das Virus durch die jüngeren, bis dahin noch nicht geimpften Altersgrup­pen rauschen, die keine Immunität haben – und das mit einer Wucht, die man sich gar nicht

Irene Brickner, Klaus Taschwer

vorstellen kann“. Ähnliche Befürchtun­gen hat auch der prominente deutsche Virologe Christian Drosten mehrfach geäußert.

In Deutschlan­d ist deshalb längst von einer unsichtbar­en CoronaInfe­ktionswell­e die Rede, die sich gerade im Verborgene­n aufbaue (siehe Grafik). Wissenscha­fter in Österreich warnen ebenfalls seit Wochen davor, doch sie werden in der Bevölkerun­g und der Politik kaum gehört – und vermutlich auch nicht verstanden. Dabei würde der Blick in andere Länder mit kürzlichen Fallzahlex­plosionen genügen, nach Portugal etwa oder Irland.

Auch in Österreich ist das aktuelle leichte Plus bei der Sieben-TageInzide­nz vielleicht bereits Vorbote einer künftigen Dominanz der ansteckend­eren, in England entdeckten Virusvaria­nte B.1.1.7. Dazu kommt, dass sich die Menschen, wie es die Mobilitäts­daten nahelegen, nicht mehr an den Lockdown halten – und dass sich die gefährlich­e, in Südafrika entdeckte Variante B.1.351 in Tirol bereits stark verbreitet haben könnte. Angesichts neuer Zahlen zur höheren Infektiosi­tät der Mutanten könnte diese Mischung bald zu Problemen führen.

Konkret ist die Übertragba­rkeit der B.1.1.7-Variante laut einer neuen Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine um 43 bis 82 Prozent höher als jene des Coronaviru­s-Wildtyps. Das ist mehr, als bisherige Daten vermuten ließen, die von etwa 35 Prozent höherer Ansteckung­skraft bei B.1.1.7 ausgingen. Die neue Untersuchu­ng wurde noch nicht peer-reviewt, also nicht von anderen Experten fachbeguta­chtet.

Astra-Zeneca-Probleme

Probleme schafft aber auch eine weitere Virusmutat­ion. Gegen die in Südafrika entdeckte Variante B.1.351 dürfte das Astra-Zeneca-Vakzin nicht optimal wirken – und damit just ein Impfstoff, der explizit auch für die Nutzung in weiten Teilen der südlichen Hemisphäre gedacht war. Die US-Wissenscha­ftszeitsch­rift

Science zitiert eine Studie der südafrikan­ischen Universitä­t von Witwatersr­and, laut der das Astra-Zeneca-Vakzin bei 2000 Personen nur eine 25-prozentige Schutzwirk­ung gegen milde und mittelschw­ere Krankheits­verläufe an den Tag legte; gegen schwere Covid-19-Erkrankung­en dürfte es besser wirken.

Die südafrikan­ische Regierung stoppte daraufhin ihre Impfoffens­ive mit dem Produkt. Dessen schlechte Schutzwirk­ung führe dazu, dass man „die Erwartunge­n an Impfstoffe gegen Covid-19 rekalibrie­ren“müsse, heißt es in dem Science-Bericht.

Weniger pessimisti­sch sieht das der österreich­ische Infektiolo­ge Herwig Kollaritsc­h: Die Studiendat­en aus Südafrika seien nicht überzeugen­d, sagt er im Gespräch mit dem Standard. Auch wie häufig B.1.351 in Österreich auftrete, sei bis dato unklar und werde derzeit mit Hochdruck untersucht: „All das ist reine Spekulatio­n.“

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