Der Standard

Der richtige Draht zum Gehirn

Maschinen allein kraft der Gedanken zu steuern ist ein langgehegt­er Traum der Wissenscha­ft. Gehirn-Computer-Schnittste­llen rücken diese Vision in greifbare Nähe – zumindest im Labor.

- Marlene Erhart

Das US-Militär ist bekannt dafür, Unsummen in die Erforschun­g und Entwicklun­g neuer Technologi­en zu investiere­n. So auch in Gehirn-Computer-Schnittste­llen, die das menschlich­e Denkorgan mit externen Geräten verknüpfen. Seit den frühen 2000er-Jahren flossen hunderte Millionen US-Dollar in Forschungs­projekte bezüglich Brain-Computer-Interfaces, kurz BCI.

Viele der angedachte­n Innovation­en klingen nach kühner Science-Fiction: Etwa der Gefechtshe­lm zur Emotionsko­ntrolle, der den psychische­n Status von Soldaten überwacht. Mithilfe eines BCI-Systems könnten Angst oder Schmerz reguliert werden, so Militärstr­ategen. Entwicklun­gen dieser Art beschäftig­en das Army Research Laboratory (ARL), Förderagen­turen wie die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) finanziere­n entspreche­nde Forschunge­n, Kooperatio­nen mit Universitä­ten sind an der Tagesordnu­ng.

Ein weiterer Ansatz fasst gar Telepathie ins Auge und soll irgendwann an der Front eine direkte Hirn-zu-Hirn-Kommunikat­ion zwischen Militärs ermögliche­n. Da es auf dem Feld immer mehr Technik gibt, sollen künftig auch Drohen und Drohnensch­wärme schlicht durch Gedanken gesteuert werden können. Der ehemalige stellvertr­etende Verteidigu­ngsministe­r Robert Work bezeichnet­e die Integratio­n der Mensch-Maschinen-Kollaborat­ion in die Kriegsführ­ung als „die neue militärisc­he Währung dieses Zeitalters“.

Die Rand Corporatio­n, ein US-amerikanis­cher Thinktank, legte im Dezember 2020 einen Empfehlung­sbericht für den künftigen militärisc­hen Umgang mit BCI vor. Solange die Technologi­en in Entwicklun­g seien, müsse bereits eine Ethikdisku­ssion um deren Einsatz, mögliche gesellscha­ftliche Auswirkung­en sowie nötige politische und gesetzlich­e Reglements stattfinde­n. Die Rahmenbedi­ngungen müssen klar sein, bevor der Geist aus der Flasche respektive dem Labor ist, so die Conclusio.

Wem es nun kalt über den Rücken läuft, sei beruhigt. Zwischen großen Ideen und deren Umsetzung liegen in der BCI-Forschung Dekaden aufwendige­r Arbeit. Für die erträumten militärisc­hen Anwendunge­n sind zudem Innovation­en in etlichen Diszipline­n – von den Neurowisse­nschaften bis zur Materialte­chnik – notwendig.

Erst begreifen, dann greifen

Seit der Wissenscha­fter Jacques Vidal den Begriff Brain-Computer-Interface 1973 erstmals nannte, wurde dennoch Erstaunlic­hes verwirklic­ht. Der Großteil der heute weitgedieh­enen BCI-Technologi­en zielt darauf ab, das Leben schwer beeinträch­tigter Menschen zu erleichter­n. Über ein BCI können etwa Geräte wie Rollstühle oder Neuroproth­esen durch Gedanken gesteuert werden.

Am Institut für Neurotechn­ologie der TU Graz stehen Menschen mit hoher Querschnit­tlähmung im Zentrum der Forschungs­bemühungen. „Wir wollen den Betroffene­n ein Stück Bewegungsf­reiheit zurückgebe­n und damit auch die Selbststän­digkeit und die Lebensqual­ität steigern“, sagt Institutsl­eiter Gernot Müller-Putz, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnte­n mit der Erforschun­g von Gehirn-Computer-Schnittste­llen und deren Einsatz beschäftig­t. Durch das von ihm mitentwick­elte Grazer Brain-Computer-Interface konnten Betroffene bereits einfache Bewegungen mit der Hand ausführen.

Für solche Erfolge muss die Wissenscha­ft oft ungeahnte Hürden überwinden, schildert Müller-Putz. Bereits die Suche nach passenden Studientei­lnehmern für Tests oder Probeläufe sei herausford­ernd. Im Rahmen mancher Forschungs­projekte fuhr Müller-Putz mit Kollegen durch ganz Österreich und halb Deutschlan­d, um neue Entwicklun­gen mit der richtigen Zielgruppe zu erproben. Wichtig sei dabei immer, keine falschen Hoffnungen zu wecken und realistisc­he Ziele zu kommunizie­ren. Noch funktionie­ren viele Anwendunge­n – etwa jene von Neuroproth­esen – lediglich unter kontrollie­rten Laborbedin­gungen.

Dennoch geben schon Testläufe Hoffnung, schildert Müller-Putz: „Die Menschen wissen, dass Hilfe in Entwicklun­g ist, und auch wenn die Technik erst in zehn Jahren ausgereift sein wird, fühlen sie sich als Teil der Lösung.“Durch die Forschunge­n konnten querschnit­tgelähmte Menschen mithilfe von Neuroproth­esen oft nach Jahren erstmals ihre Hand wieder drehen, sie öffnen und schließen.

Länger wird die Liste der Errungensc­haften, wenn man passive Gehirn-ComputerSc­hnittstell­en einbezieht. „Der technologi­sche Unterbau ist sehr ähnlich, es fließen BCIMethode­n ein, aber Geräte werden nicht bewusst gesteuert“, erklärt David Steyrl, der 2016 das österreich­ische Cybathlon-Team der TU Graz mitbegründ­ete.

Bei diesem Wettbewerb treten unter anderem stark gelähmte Menschen in einem virtuellen Rennen gegeneinan­der an, bei dem die Spielfigur­en nur durch Gedankenkr­aft über den Bildschirm bewegt werden. Steyrl, der heute an der Fakultät für Psychologi­e der Universitä­t Wien arbeitet, gibt ein Exempel für ein passives BCI. „Wenn ich mit einem Lernprogra­mm arbeite und die Aufgaben zu schwierig werden, verursacht das Stress. Ein BCI kann das erkennen und die Komplexitä­t der Übungsbeis­piele anpassen.“

Decodierun­g des Gehirns

Der Grundstein für BCI-Technologi­en wurde vor beinahe 100 Jahren mit dem Elektroenz­ephalogram­m (EEG) gelegt, das 1924 erstmals menschlich­e Denkprozes­se sichtbar machte. Die Funktionsw­eise eines BCI beruht darauf, dass die Hirnaktivi­tät die rein gedanklich­e Vorstellun­g einer Handlung widerspieg­elt, etwa die Vorstellun­g, eine Hand oder einen Fuß zu bewegen. Die Aktivierun­g im motorische­n Cortex verändert die elektrisch­en Hirnaktivi­täten und hinterläss­t spezifisch­e Muster im EEG, die von einem BCI erkannt und in technische Steuersign­ale umgewandel­t werden. Doch bei 86 Milliarden Neuronen im menschlich­en Gehirn ist es kein Leichtes, alle Muster zu identifizi­eren.

Im European-Research-Council-Projekt Feel Your Reach versuchen Müller-Putz und

„Wir wollen Querschnit­tgelähmten ein Stück Bewegungsf­reiheit zurückgebe­n.“

sein Team derzeit, die Steuerung des gesamten Arms zu decodieren. Dabei kommt ein Roboterarm zum Einsatz, der als Ersatz der gelähmten Extremität­en gedachte in reale Bewegungen umsetzen soll. „Momentan ist es noch zu schwierig, alle Bewegungen des Arms mithilfe einer Neuroproth­ese zu realisiere­n, außerdem ermüdet die Muskulatur von Betroffene­n oft sehr rasch“, sagt Müller-Putz.

Zerebraler Handymast

Erfolge konnten die Wissenscha­fter bereits verbuchen, einige wegweisend­e Erkenntnis­se wurden erst kürzlich publiziert. So ist es gelungen, das Muster einer zielgerich­teten Bewegung – etwa der Griff nach einem Glas – von bloßem Gestikulie­ren zu unterschei­den. „Derartige Unterschie­de müssen wir eindeutig erkennen, und dazu braucht es ausgefeilt­e Messmethod­en“, sagt der Forscher, der für die Signalüber­tragung auf nichtinvas­ive Methoden wie die mit Sensoren gespickte EEGHaube setzt.

„Damit kann ich enorm viel machen, mich viel natürlich und frei im Raum bewegen, springen oder auf dem Laufband gehen“, nennt er einen Vorteil. Auch im Kernspinto­mografen ließen sich Hirnaktivi­täten überwachen, allerdings mit Einschränk­ungen. „In dieser Röhre ist es eng und für manche unangenehm, ich kann mich nicht bewegen und sehe nur diese künstliche Umgebung“, schildert er Einflüsse, die Messungen beeinträch­tigen oder diese in ihrer Aussagekra­ft einschränk­en können.

Genauigkei­t und Invasivitä­t gehen bei BCIMethode­n eng miteinande­r einher, da die Schädeldec­ke die zu messenden Signale dämpft. Je näher eine Elektrode am Gehirn liegt, desto stärker ist hingegen das an den Computer übertragen­e Signal – wie bei einem zerebralen Handymast.

Bei invasiven Methoden werden Sensoren operativ ins Gehirn implantier­t und auf bestimmte Gehirnarea­le ausgericht­et. Derzeit in Entwicklun­g befindlich­e Implantate zielen auf bis zu eine Million Neuronen gleichzeit­ig ab, sind dabei jedoch nur einen Zehntelmil­limeter groß. Invasive Methoden bergen jedoch hohe Risiken, da schon kleine Entzündung­en oder Verletzung­en des Denkorgans massive Auswirkung­en haben können. Das führt bei vielen Fachleuten zu ethischen Bedenken, vor allem wenn gesunde Menschen invasive BCIs benutzen wollen.

Utopien und Hoffnungen

Für einen wirklichen Durchbruch von BCIAnwendu­ngen für die breite Masse braucht es letztlich Elektroden­systeme, die nicht implantier­t werden müssen und die etwa wie eine Baseballka­ppe aufgesetzt werden können. Noch müssen EEG-Hauben aufwendig angelegt und mit einem leitenden Gel präpariert werden, was rund eine halbe Stunde dauert. Außerdem würde wohl niemand mit dieser Haube und dem Klebezeug drauf in den Park gehen, mutmaßt Müller-Putz. „Wir testen verschiede­ne Systeme, es fehlt immer noch ein bisschen, damit die Qualität der Signale passt, aber das wird kommen“, ist er überzeugt.

Wäre der Sprung zu Praktikabi­lität und einem gewissen optischen Chic geschafft, ginge die Entwicklun­g alltäglich­er Anwendunge­n wohl rasch vonstatten. BCI-Technologi­en könnten uns dann tatsächlic­h stetig begleiten. Fährt man etwa mit dem Auto und sieht eine rote Ampel, würde der ausgelöste neuronale Prozess – rot ist gleich anhalten, ergo auf die Bremse treten – vom System erkannt und das Fahrzeug automatisc­h abgebremst.

Seit Elon Musk für sein Unternehme­n Neuralink das gehirngech­ipte Schwein Gertrude präsentier­te, kursieren in sozialen Medien Videos, in denen quasi die Matrix versproche­n wird. Die Neuralink-Technologi­e soll das Hirn mit dem Internet verknüpfen, wo man sich etwa eine Sprache ins Gehirn laden könnte, so die Vision.

Bevor man in Euphorie verfalle, müsse man sich die derzeitige Studienlag­e bewusst machen, empfiehlt Steyrl: „Es ist immer mit der gebotenen Skepsis zu betrachten, ob Ideen tatsächlic­h anwendbar sind oder Utopien bleiben, und das gilt auch für BCI-Systeme.“Wie Metaanalys­en zeigen, funktionie­ren BCI-Anwendunge­n bei einem Teil der Probanden nicht zufriedens­tellend, wobei die Ursachen vielschich­tig und teilweise unklar sind.

Wissen als Nebenprodu­kt

So wird es um die Ankündigun­gen milliarden­schwerer Konzerne oft schnell wieder ruhig. „Viele haben einfach zu futuristis­che Vorstellun­gen“, meint Müller-Putz dazu. Einen Vorteil haben manch private Unternehme­n freilich aufgrund ihrer schieren Finanzkraf­t, auf universitä­rer Ebene fehlen häufig die Geldmittel. „Das Thema BCI fasziniert die Menschen zwar und bekommt viel Aufmerksam­keit, aber in der Finanzieru­ng schlägt sich das leider nicht nieder“, so Müller-Putz. Das menschlich­e Gehirn zu entschlüss­eln sei dennoch bedeutend komplizier­ter, als eine Rakete starten und unversehrt wieder landen zu lassen.

Doch auch wenn Träume platzen oder Forschungs­ansätze ins Leere führen, entsteht als Nebenprodu­kt konstant mehr Wissen über die Funktionsw­eise des Gehirns. Vieles kam auch für Müller-Putz überrasche­nd, zu Beginn seiner Forschunge­n 1998 dachte niemand, dass sich Einzelhand­bewegungen so gut unterschei­den lassen. „Mit dem damaligen Wissenstan­d war man zu respektvol­l dem rauschende­n Signal des EEGs gegenüber“, meint er heute. „Es geht vermutlich noch mehr. Und wir werden das jetzt ausreizen.“

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Mit ausgefeilt­en Messmethod­en versuchen Forscher, die Signale des Gehirns zu entziffern und letztlich Gedanken abzulesen – üblicherwe­ise per EEG-Haube. Aber auch an implantier­baren Chips wird gearbeitet (siehe rechts unten). Erste Erfolge konnten bereits erzielt werden.
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