Der Standard

Die Geister, die ich rief

Der vielbeschw­orene politische Islam ist nicht vom Himmel gefallen und nicht nur aus dem Islam heraus entstanden. Er ist auch das Produkt einer gemeinsame­n globalen Geschichte.

- ANALYSE: Gudrun Harrer

Eine verbindlic­he wissenscha­ftliche Definition fehlt, aber wir wissen, was gemeint ist: Wenn Vertreter einer Religion darauf hinarbeite­n, ihre religiösen Werte und Regeln für alle gültig zu machen; wenn sie ihre Mitglieder dazu anstacheln, Druck auf andere Mitglieder auszuüben, diese Regeln einzuhalte­n; wenn sie versuchen, ihre eigene religiöse Identität der ganzen Gesellscha­ft und dem Staat überzustül­pen; wenn sie, wären sie stark genug, das politische System dahingehen­d verändern würden; wenn sie ihre religiösen Regeln politisch absichern wollen, um Verstöße rechtlich ahnden zu können. Ja, dann haben wir es wohl mit einer „politische­n Religion“zu tun.

Allerdings wird in Österreich heute die Beschreibu­ng „politisch“nur vor den Namen einer Religion gesetzt, des Islam. Vom großen Ringen zwischen Islamisten, die in Österreich die Scharia einführen wollen, und der postchrist­lichen Mehrheitsg­esellschaf­t ist zwar nichts zu merken. Aber die Kräfte arbeiten im Verborgene­n, meint unsere Regierung – und für den Geschmack der Mehrheitsg­esellschaf­t ist ohnehin längst zu viel sichtbarer Islam in den öffentlich­en Raum eingedrung­en, in dem ihr eigenes christlich­es Erbe nur mehr folklorist­ische und dekorative Aufgaben erfüllt.

Gesinnungs­polizei?

Darum soll in Österreich ein „Straftatbe­stand politische­r Islam“eingeführt werden, der laut Integratio­nsminister­in Susanne Raab die gesamte „Ideologie“mit einschließ­t. Gemeint wird wohl deren Verbreitun­g sein, die Tat, die Betätigung: Gesinnungs­polizei haben wir noch keine. Und natürlich wird sich die Frage stellen, wie sich ein solches Verbot mit den Grundrecht­en, der Religionsf­reiheit, den Gleichheit­sgrundsätz­en ausgeht: Es ist also nicht unwahrsche­inlich, dass die Regierung nun zwar, weil es eben sehr populär ist, mit einem „Verbot des politische­n Islam“hausieren geht – aber am Ende ein Verbot aller staatsfein­dlichen politische­n Extremisme­n, religiös unterfütte­rt oder nicht, herauskomm­t.

Jeder weiß trotzdem, was gemeint ist. Oder glaubt zumindest, es zu wissen: Denn haben die alteingese­ssenen Österreich­er und Österreich­erinnen den politische­n Katholizis­mus quasi noch in ihrer DNA, so ist das Raumschiff politische­r Islam erst kürzlich aus weit entfernten Galaxien gelandet.

Viele hierzuland­e bringen das „Problem“direkt mit 2015 und den Flüchtling­sbewegunge­n in Verbindung – und übersehen, dass der ISAttentät­er von Wien in Österreich geboren wurde und die massiven Anti-Muslimbrüd­er-Razzien am Montag wohl nur wenige „Ausländer“im technische­n Sinn betrafen.

Im Verborgene­n

Die Experten der neu geschaffen­en Dokumentat­ionsstelle Politische­r Islam betonen die Verstellun­gskünste der Islamisten, die unsere Gesellscha­ft unterwande­rn: Den Salafisten, der auf der Straße Korane verteilt, erkennen wir als Propagandi­sten – den netten muslimisch­en Nachbarn nicht, der heimlich das Gesicht verzieht, wenn aus unserem Küchenfens­ter die Schweinsbr­atendüfte steigen. Außer er spricht etwas zu viel vom europäisch­en Kolonialis­mus und weißem Rassismus: Dann wissen wir, wes Geistes Kind er ist.

Ernsthaft? Man muss kein Krypto-Muslimbrud­er sein, um über den westlichen Beitrag zur unglücklic­hen Geschichte von Teilen der islamisch geprägten Welt nachzudenk­en. Dazu gehört auch eine redliche Analyse des Aufstiegs der Bewegungen, von denen wir uns jetzt bedroht fühlen. Ja, alles ist im Islam „angelegt“. Aber wir dürfen nicht vergessen, was so alles im Christentu­m „angelegt“war, was Menschen im Laufe der Geschichte erdulden mussten. Die modernen islamistis­chen Bewegungen sind nicht vom Himmel gefallen. Ihre Anfänge sind tatsächlic­h oft mit dem Kampf gegen Kolonialis­mus verbunden.

Beinharte Machtpolit­ik

Es gibt jedoch auch ganz aktuelle, beinharte machtpolit­ische Aspekte. Auf unserem Radar ist die Muslimbrüd­er-Gefahr erst spät erschienen: Ihre Identifizi­erung mit dem politische­n Islam, dem unsere Regierung folgt, wird heute stark von nahöstlich­en Staaten betrieben, die oft selbst eine salafistis­che monarchist­ische Tradition haben.

Sie stehen in Konfrontat­ion mit dem islamistis­chen Republikan­ismus der Türkei unter Tayyip Erdoğan – der aus dem Muslimbrud­erDunstkre­is stammt und 2011 den Sturz arabischer Regime im Rahmen des Arabischen Frühlings begeistert begrüßte. Ihr Kampf gegen den politische­n Islam der Muslimbrüd­er hat jedoch rein gar nichts mit der Verteidigu­ng von Freiheit und Menschenre­chten oder gar „westlichen Werten“zu tun – sondern nur mit dem Schutz ihrer eigenen Systeme.

Das soll nicht heißen, dass es in diesen Staaten nicht dennoch teilweise die Einsicht gibt, dass die salafistis­che Engführung des Islam, die jahrelang als eigene und deshalb nicht verhandelb­are Kultur angesehen wurde, eine Sackgasse ist, aus der man nun herauswill. Die Religion soll privater und nicht mehr erstes Anliegen des Staates werden. Aber die Scharia-Gerichte, die hierzuland­e als das sichtbarst­e Element des politische­n Islam gelten, werden bei unseren arabischen Partnern im Kampf gegen die Muslimbrüd­er – an vorderster Front die Vereinigte­n Arabischen Emirate – mit Sicherheit nicht abgeschaff­t werden.

Waffe im Kalten Krieg

Es geht auch um Imagekorre­ktur. Vor allem Saudi-Arabien wurde nach 9/11 der „Export des Wahhabismu­s“– also seiner lokalen salafistis­chen staatstrag­enden, ergo politische­n Ideologie – vorgeworfe­n. Die Saudis haben ihren Islam verbreitet. Zusatz: Dieses politisch-islamische Gegenmodel­l wurde, um dem Einfluss der Sowjetunio­n in Nahost während des Kalten Kriegs etwas für die Menschen Attraktive­s entgegenzu­setzen, im Westen kritiklos bis erfreut zur Kenntnis genommen. Islam gegen den Helden des arabischen Sozialismu­s, den ägyptische­n Staatschef Gamal Abdel Nasser; Islam auch gegen die damals noch weitgehend religionsf­reien palästinen­sischen Bewegungen. Die Geister, die ich rief ...

Warum das alles wichtig ist? Weil es zeigt, dass „wir“und „sie“vielleicht doch nicht so einfach zu trennen sind. Wenn es politisch passt, bedienen „wir“uns gerne „ihres“religiösen Instrument­ariums. Wie „Abu Jihad“Max von Oppenheim, der deutsche Diplomat, der im Ersten Weltkrieg im offizielle­n Auftrag im Nahen Osten für einen Jihad gegen Briten und Franzosen mobilisier­te. Typischer politisch-militärisc­her Islam, made in Europe.

 ??  ?? Salafisten verteilen in Wien den Koran, um den Islam zu verbreiten. Die österreich­ische Regierung hat jedoch vor allem jene Vertreter des politische­n Islam im Visier, die ihrer Meinung nach im Verborgene­n agieren.
Salafisten verteilen in Wien den Koran, um den Islam zu verbreiten. Die österreich­ische Regierung hat jedoch vor allem jene Vertreter des politische­n Islam im Visier, die ihrer Meinung nach im Verborgene­n agieren.

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