Glück nicht erst im Paradies
Es war ein Hype der unheimlichen Art: Als der „Islamische Staat“(IS) auf dem Höhepunkt der Macht im Nahen Osten stand, hängten sich Jugendgangs plötzlich ein ideologisches Mäntelchen um. Profaner Diebstahl und Bestellbetrug galten nun als vom Koran legitimierter Kriegsbeutezug. Danach sei es oft schnell gegangen, sagt Moussa Al-Hassan Diaw: Innerhalb weniger Monate machte sich so mancher in Richtung Syrien auf, landete im Gefängnis und in der Folge im Deradikalisierungsprogramm von Derad.
Überwiegend Männer zwischen 15 und 25 Jahren sind es, die der Religionspädagoge Diaw und sein 13-köpfiges Team betreuen, die regelmäßigen Gespräche ziehen sich mitunter über Jahre. „Als Oberlehrer brauchen wir ihnen nicht zu kommen“, sagt der Vereinsleiter. Stattdessen gilt es, den eigenen Trumpf – Sattelfestigkeit in Glaubensfragen – auszuspielen. Langwierig fallen Debatten über den Koran und die Geschichte aus. Behauptet ein Jihadist, dass „Kuffar“(Ungläubige) zu bekämpfen seien, berichten die in der Regel muslimischen Betreuer Gegenteiliges aus dem Leben des Propheten. Geht es um die Zerstörung von „Götzenbildern“, halten sie Belege entgegen, die diese Praxis weit nach Mohammed datieren.
Viel sei schon gewonnen, wenn ein Klient alternative Sichtweisen zumindest respektiert, sagt Diaw. Regten sich dann Zweifel am eigenen Weltbild, beginne das ideologische Gebäude zu bröckeln – und damit die Illusion, dass der IS das bessere System biete.
Kommt ein Täter unter Auflagen auf freien Fuß, steigt zusätzlich Neustart in die Arbeit ein. Den theologischen Hebel haben die Bewährungshelfer nicht, die erste Reaktion ist in der Regel Ablehnung. Tenor: Allah schaut eh auf mich.
Jihadistische Parolen ließen die Betreuer erst einmal unwidersprochen stehen, sagt Neustart-Sprecher Andreas Zembaty. Ziel sei es, zum Menschen hinter der Fassade vorzudringen: zu Geschichten über verfahrene Vater-Sohn-Beziehungen, Mobbing im Park und andere Frusterlebnisse.
„Ehe sie uns glauben, testen sie uns ab“, erzählt Zembaty. Also unterstützen die Bewährungshelfer bei der Jobsuche, beim Antrag auf Sozialhilfe oder bieten einfach einmal die Möglichkeit an, sich auszukotzen. Im Erfolgsfall merkten die Klienten irgendwann, dass das Glück nicht erst im Paradies warten muss.
Doch wie oft klappt das? Von 116 wegen jihadistischer Umtriebe verurteilten Personen, die Neustart seit 2006 betreut hat, seien nur fünf wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, rechnet der Sprecher vor. Doch natürlich sei ein schrecklicher Einzelfall Anlass genug, das System zu verbessern, zu allererst beim Informationsabtausch. Eigentlich gibt es die Möglichkeit, in „Fallkonferenzen“alle Akteure – von der Exekutive über die Justiz bis zu den Deradikalisierungsarbeitern – an einen Tisch zu bringen. Allerdings müsse die Polizei dazu einladen, sagt Zembaty. Das sei bislang nicht passiert.
Ein Jihadist verteidigt sich
Eine Studie des Instituts für Rechtsund Kriminalsoziologie gab 2017 Hinweise auf weitere Defizite: Derad brauche einen „Professionalisierungschub“, zudem zeigten sich Betreuer in ihren Berichten „überraschend arglos“. Wenn sich ein Klient in Sachen extremistischer Ideologie unwissend präsentiere, werde das mitunter für bare Münze genommen, nach der Logik: Ein echter Jihadist verteidige seine Haltung.
Diaw nennt die Kritik allerdings „an Rufschädigung grenzenden Unsinn“, der sich leicht widerlegen lasse – wenn er denn Berichte veröffentlichen dürfte.
Wer sich in der Expertenschaft umhört, stößt auf recht positive Urteile. „Derad ist das Beste, was wir haben“, sagt der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker und sieht die heimische Deradikalisierungsarbeit inhaltlich „gut aufgestellt“. Doch bis hin zur Wiener Jugendarbeit und zur Gefängnisseelsorge der Islamischen Glaubensgemeinschaft gebe es ein übergreifendes Problem: zu wenig Geld und zu wenig Personal.