Der Segler, der Krebs, die Karotte
Die Segellegende Santiago Lange trotzte einer schweren Erkrankung und erfüllte sich mit der Vorschoterin Cecilia Carranza den Traum von Olympia-Gold. Derzeit steht das argentinische Duo bei der EM am Attersee im Rampenlicht.
Wolken hängen über dem See. Die Sonne lässt sich kaum blicken. Immerhin sind die Temperaturen der Jahreszeit angepasst. Das wahre Problem: von Wind keine Spur. Auf dem Gelände des Union-Yacht-Clubs Attersee (UYCAs), des größten und zweitältesten Segelclubs in Österreich, herrscht dennoch reger Betrieb. Die ursprünglich für Mai auf dem windsicheren Gardasee geplante und wegen Corona ins Wasser gefallene Segel-Europameisterschaft findet nun im Salzkammergut statt. Auch wenn am Attersee immer wieder einmal Flaute statt „Rosenwind“herrscht. Unter normalen Umständen wäre der Attersee daher wohl nie zum Zug gekommen, zudem hätte das Projekt auch finanziell kaum gestemmt werden können.
Lisa Farthofer sorgte für die Initialzündung. Die Tochter des ClubPräsidenten Michael Farthofer hat durch ein Gespräch mit dem Klassensekretär der Olympia-Kampagne die Weichen gestellt, dass nach den World Sailing Games 2006 das bis dato höchstrangige Segelevent in Österreich stattfindet. Bis Sonntag ermitteln die olympischen Highspeed-Klassen 49er, 49erFX und acra17 ihre Europameister.
Mit dabei, wenn auch ohne Chance auf den EM-Titel, ist eine Koryphäe der Szene: Santiago Lange.
„Segeln ist mein Leben, es hat meine Persönlichkeit geprägt“, sagt der 59-jährige Argentinier, der nichts mehr liebt, als sich vorzubereiten, Regatten zu bestreiten und über Verbesserung nachzudenken. „Der Wettkampf ist nicht das Wichtigste, nur ein Teil des Ganzen. Gewinnen ist die Konsequenz eines Prozesses“, sagt der schlaksige, in einem Campingstuhl lungernde Seebär.
Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro hat er mit Cecilia Carranza (33) Gold in der Nacra17-Klasse geholt – nach jeweils Bronze in Athen 2004 und Peking 2008 in der Tornado-Klasse. Er war viermal Weltmeister und peilt 2021 in Tokio seine siebenten Olympischen Spiele an.
Karriere und Krise
Dabei drohte Langes Karriere 2015 ein jähes Ende. Diagnose: Krebs. „Sie haben 80 Prozent meiner linken Lunge entfernt“, erzählt er. Das Segeln habe ihm enorm geholfen. „Wir Athleten trainieren, um an die Grenzen gehen zu können. Wir haben gelernt, positiv zu bleiben. Das half mir dabei, nicht eine Krise zu bekommen.“
Lange gab nicht auf, arbeitete an seiner Fitness. Ohne allerdings zu wissen, ob er überhaupt jemals wieder segeln können würde. „Ich war froh, dass ich so enthusiastisch war.
Ich habe den Berg bestiegen“, sagt er. Die Regeneration dauerte neun Monate und war auch ein Kampf gegen die Zeit, um bei Olympia in Rio antreten zu können. „Ich hatte quasi die Karotte vor mir, bin hinterhergelaufen und habe nicht so viel an meine Krankheit gedacht.“
Ehe und Scheidung
Jahre davor hatte er sich der Liebe wegen vorübergehend von seinem Traum verabschiedet. Seine Frau Celina forderte nach Atlanta 1996: „Nie wieder Olympia!“Also versuchte sich Lange als Projektmanager für Tiefkühlmahlzeiten. Nach eineinhalb Jahren ließ er sich scheiden und begann, wieder zu segeln. 2008 beendete der studierte Schiffbauer seine olympische Karriere, 2014 entschloss er sich spontan zur Zusammenarbeit mit seiner neuen Vorschoterin und kehrte zurück. „Ich muss in meinem Leben manches auslassen, aber weil ich das Segeln so sehr liebe, sollte ich es weiter verfolgen.“Ebenfalls verfolgt wird ein Buchprojekt – Luft holen von Nicolás Cassese soll im März 2021 erscheinen.
Verrückt nach Segeln war auch schon Langes Vater, der bei Olympia in Helsinki 1952 Vierter wurde, und sind auch seine Söhne Yago (32) und Klaus (25), die als Siebente in Rio 2016 aufzeigten. „Wir sind eine Segelfamilie“, sagt Lange, der auch schon einige Male am Volvo Ocean Race („Ein großes Abenteuer“) und am America’s Cup („Die Formel 1“) teilgenommen hat.
Sinn des Segelns aber seien olympische Kampagnen. „Dazu muss man talentiert und ein kompletter Segler sein“, sagt Lange, der Corona als Lektion sieht, „als große Herausforderung mit vielen Chancen für die Menschheit. Wir können lernen, die Welt als Einheit verstehen.“Er selbst überdachte seinen Lebensstil. „Wir müssen uns überlegen, was wir der nächsten Generation hinterlassen. Ich fragte mich, ob ich wirklich 15 Mal pro Jahr von Argentinien nach Europa fliegen muss.“
2000 hat Lange mit den Goldmedaillengewinnern von Sydney (2000) und Athen (2004), Roman Hagara und Hans-Peter Steinacher, eine Trainingsgemeinschaft gebildet. Seither wird er von Red Bull unterstützt. „Ich verdanke ihnen viel.“Hagara erinnert sich gerne zurück. „Wir haben uns gegenseitig gepusht. Oft stundenlang. Keiner von uns hat aufgegeben. Im Endeffekt war das Teil des Erfolgs.“
Hagaras Rennserie GC32 wurde heuer wegen Corona abgesagt, er ist jetzt zuständig für die OlympiaTeams Benjamin Bildstein und David Hussl (49er) sowie Thomas Zajac und Barbara Matz (Nacra17), die aktuellen Trainingspartner von Lange/Carranza.
Probleme und Träume
An Langes Erfolg in Rio war eine Frau maßgeblich beteiligt: Cecilia Carranza. Um einen Start am Attersee musste sie wochenlang bangen. Die Behörden verlängerten ihr Visum erst am ersten EM-Tag. Red Bull, der Yachtclub Attersee und ÖOC-Generalsekretär Peter Mennel hatten sich dafür starkgemacht. Das Segeln helfe auch ihr, schwierige Situationen zu meistern. „Segeln ist eine Schule für das Leben, es hilft dir beim Wachsen. Es geht immer darum, Probleme zu lösen, um Träume zu verwirklichen. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. So ist das Leben.“