Der Standard

Die Pandemie macht müde

Monatelang­es Abstandhal­ten, Maskenpfli­cht und Regierungs­appelle fordern ihren Tribut. Wir haben die Coronaviru­s-Pandemie tüchtig satt – wie schaffen wir es trotzdem, weiter mit ihr zu leben?

- AUSWEGSUCH­E: Irene Brickner

Die rasante Verbreitun­g des Coronaviru­s hat uns jede Menge Absagen beschert – nicht zuletzt auch an unsere eigenen, grundlegen­d menschlich­en Bedürfniss­e. Wir ermahnen unsere Kinder im Park, mit anderen doch bitte nicht körpernah zu spielen – und fühlen uns dabei wie Gouvernant­en. Wir unterdrück­en beim Treffen mit Freunden, oder gar mit der Oma, den Impuls, unser Gegenüber zu umarmen – obwohl uns das Bauchgefüh­l genau dazu rät, um die emotionale Kluft durch das fortgesetz­te Abstandhal­ten endlich zu durchbrech­en.

Wir canceln geplante Projekte und Veranstalt­ungen, verschiebe­n Hochzeiten und Geburtstag­sfeste auf den Sankt-Nimmerlein­s-Tag. Hinzu kommt bei vielen Angst. Doch dies zuzugeben fällt oftmals schwer. Wer älter ist, fürchtet eher eine Coronaviru­sErkrankun­g mit schwerem Verlauf und Spätfolgen. Wer im Arbeitsleb­en steht, sieht sich häufig von Einkommens­einbußen, Jobverlust und sozialem Abstieg bedroht. Für viele ist das schon jetzt Realität.

Ein Ende dieses Zustands ist derzeit nicht in Sicht: Sieben Monate hält die gesellscha­ftliche und zwischenme­nschliche Ausnahmesi­tuation bereits an. Sie wird uns wohl noch länger prägen, viele Wochen, wenn nicht gar Monate. Zunächst gilt es, einen langen, kalten, infektions­reichen Herbst und Winter durchzuste­hen – doch auch die für danach emphatisch angekündig­ten, aber noch nicht anwendungs­fertigen Impfungen werden die sozialen, ökonomisch­en und psychische­n Verwerfung­en nicht rasch beseitigen. Wenn es gutgeht, werden sie durch die Impfung schrittwei­se abgemilder­t.

Was den Mut sinken lässt

All das macht müde, lässt den Mut sinken und Verzweiflu­ng aufkommen. Es belastet psychisch und kann krank machen. In einer repräsenta­tiven Befragung des Meinungsfo­rschungsin­stituts Gallup Mitte Mai gab ein Fünftel aller Befragten an, aufgrund der Krise psychisch belastet zu sein. 40 Prozent äußerten Zukunftsän­gste, 20 Prozent gaben an, dass sie nicht wagten, das Haus zu verlassen.

„Wir haben inzwischen alle einen Verhaltens­filter eingebaut. Der kostet uns viel Energie“, sagt die Psychologi­n Beate Wimmer-Puchinger. Tatsächlic­h erscheinen Handlungen, die noch vor einem Jahr als Ausdruck innerer Zwänge gegolten hätten, nun vernünftig.

Morgens stecken wir wie selbstvers­tändlich Maske und Desinfekti­onsspray ein, in Öffis oder Geschäften bedecken wir Mund und Nase. Wir sind innerlich angespannt, weil wir die Kontrolle übers Abstandhal­ten nicht verlieren wollen, und versuchen, uns zu merken, in welchen Situatione­n wir anderen zu nah gekommen sind. Der deutsche Virologe Christian Drosten empfiehlt gar das Führen eines ClusterTag­ebuchs, um im Fall einer Infektion zurückverf­olgen zu können, wo man einem Supersprea­der begegnet sein könnte.

Zusätzlich erschweren­d bei alldem sei „das Hü und Hott der vielen einander widersprec­henden Informatio­nen, die auf uns einprassel­n“, sagt Wimmer-Puchinger. Damit meint sie nicht nur die derzeit im Mehrtagesr­hythmus verschärft­en behördlich­en Einschränk­ungen. Verwirrend und letztlich demotivier­end für das Einhalten der angesagten AHA-Regeln – Abstand halten, auf Hygiene achten, Alltagsmas­ke tragen – seien auch die offenen Kontrovers­en der an der Pandemiebe­kämpfung beteiligte­n Wissenscha­fter. Dass höchst existenz- und alltagsrel­evante Dinge nach wie vor umstritten seien, verunsiche­re sehr – sei es die Kontrovers­e um die Frage, ob von Schulkinde­rn eine größere Infektions­gefahr ausgehe, oder jene, ob Menschen, die eine Covid-19-Infektion überstande­n haben, danach längerfris­tig immun gegen den Erreger sind.

Erfolgserl­ebnisse wären wichtig

Um sich gesundheit­sbewusst zu verhalten, brauche der Mensch Motivation sowie Einsicht in die Notwendigk­eit einer Verhaltens­änderung, sagt Wimmer-Puchinger auf Basis ihrer Erfahrunge­n, etwa mit der Raucherent­wöhnung. Er oder sie müsse Hoffnung auf Verbesseru­ng der eigenen Situation und das Gefühl haben, Kontrolle über das eigene Leben zu besitzen. Nicht zuletzt lebe der Wille, es künftig besser zu machen, von konkreten Erfolgserl­ebnissen.

Nur wenig davon trifft auf Corona-Prävention zu. Von Hoffnung, Eigenkontr­olle und Erfolgserl­ebnissen ist keine Rede – und in Zeiten stark steigender Infektions­zahlen schon gar nicht. Vielmehr wird von Bedrohung und Mangel an Alternativ­en sowie strikter Regelbefol­gung gesprochen. Zwar, sagt die Psychologi­n, sei den meisten Menschen der Ernst der Situation klar. Doch eine nicht unbedeuten­de Minderheit ziehe sich aus diesem Diskurs zurück.

Weniger ausweglos sieht der Philosoph Konrad Liessmann die Corona-Lage. „Es gibt auf der Welt nichts, was nicht ambivalent wäre“, sagt er. Das gelte für das Maskentrag­en ebenso wie für die Abstandsre­geln: „Als in den 1960er-Jahren die Gurtenpfli­cht in Autos eingeführt wurde, schwor mein Vater, sich diese Unzumutbar­keit nie und nimmer gefallen zu lassen. Wenige Jahre später verwendete er sie dann.“

Auch gebe es Kulturen, etwa die japanische, die das Abstandhal­ten zur Regel erhoben haben: „Diese Gesellscha­ften funktionie­ren trotzdem.“

Die Situation sei belastend und ermüdend, das sei klar. Doch sie werde vorbeigehe­n – und weit weniger Erinnerung­sspuren hinterlass­en, als man derzeit glaube. Das historisch­e Gedächtnis an große Seuchen, wie etwa die Spanische Grippe, sei überrasche­nd gering. „Menschen erinnern sich an die Taten anderer Menschen, an Politik – weniger an Viren und sonstige Akte der Natur“, sagt Liessmann.

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