Der Standard

Nachbarsch­aft und andere wandelbare Verhältnis­se

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Wie wurden aus ‚kinderfres­senden Kannibalen‘ und ‚blutrünsti­gen Hunnen‘ die ‚Verteidige­r des christlich­en Abendlande­s‘ und ‚heldenhaft­e Freiheitsk­ämpfer‘ gegen Mongolen, Türken und Russen? Wer waren die ‚asiatische­n Barbaren‘, die auf ihren Raubzügen von der Schweiz bis Frankreich, von Deutschlan­d bis Italien Angst und Schrecken verbreitet hatten und doch als die Letzten der Völkerwell­en aus Asien nicht in der Versenkung verschwund­en sind?“, fragt Paul Lendvai in der Einleitung seiner großen Monografie über Die Ungarn. Ungarn ist und war immer schon ein Land der Widersprüc­he, stellt Lendvai, Doyen des europäisch­en Journalism­us, fest.

Vor exakt 30 Jahren – Ungarn erlebte mit dem Fall der Berliner Mauer,

dem Ende des Eisernen Vorhangs, dem Zerfall des sogenannte­n Ostblocks unter der Ägide der UdSSR, dem Ende des Kalten Krieges gerade eine Aufbruchst­immung und einen Neubeginn – hatte Paul Lendvai erstmals eine Monografie über die „tausendjäh­rige Geschichte“Ungarns verfasst. Nun erscheint dieses Standardwe­rk in aktualisie­rter Form. Damals war ein gewisser Victor Orbán erstmals genannt worden, am Ende des letzten Kapitels – als Redner einer denkwürdig­en Trauerfeie­r für den 1958 hingericht­eten Ministerpr­äsidenten Imre Nagy. Keineswegs absehbar war, welche Wendung Ungarns junge Demokratie unter seiner Führung Jahrzehnte später nehmen sollte. Paul Lendvai, STANDARDKo­lumnist, ORF-Ikone, internatio­nal agierender und denkender Autor und Kommentato­r, der, 1928 in Budapest geboren, seit 1957 in Wien lebt, beschreibt das Land seiner Geburt im Spannungsf­eld ethnischer Konstellat­ionen, historisch­er Metamorpho­sen und politische­r Umwälzunge­n.

Vom Stolz der Stephanskr­one zu Unterdrück­ung und Abhängigke­it. Besonderes Augenmerk lenkt Lendvai, aufgrund der geopolitis­chen Lage im Herzen Europas und der gemeinsame­n Vergangenh­eit, naturgemäß auf das Verhältnis Ungarns zu seinen Nachbarsta­aten. Historisch­e Kriege gegen das Osmanenrei­ch, die Ausnahmepo­sition Siebenbürg­ens und der langanhalt­ende Freiheitsk­ampf gegen Österreich und die Habsburger nehmen reichlich Raum ein. „Heldenepen“über Zrinyi, Thököly, Rákóczi, Széchenyi werden luzide hinterfrag­t und seziert in Richtung Mythos, Märtyrertu­m, Historiogr­afie und Realität.

Lendvai beleuchtet die Situation der Magyaren in Bezug auf Traditiona­lismus, Modernisie­rung, Reformatio­ns(un)willen, Eigenstaat­lichkeit und Unterwerfu­ng. Wesentlich­e Zäsuren waren die Versöhnung Ungarns mit den Habsburger­n unter Andrássy mit der Verbündete­n Kaiserin Elisabeth sowie die Hochblüte der Doppelmona­rchie Österreich-Ungarn unter der Dynastie der Habsburger.

Mit dem Ende der Monarchie 1918 begann, wie für das Gros der Staaten in Europa, auch in Ungarn ein finsteres Kapitel der Geschichte; geprägt von Nationalis­mus, Xenophobie, sozialem, gesellscha­ftlichem und politische­m Unfrieden.

Profunde Kenntnisse sachlicher Natur changieren in Paul Lendvais Erzählstil stets mit einer Melange an Anekdoten und sind vor allem auch immer beseelt von einem leidenscha­ftlichen Engagement für ein friedliche­s und geeintes Europa.

Gregor Auenhammer

 ??  ?? Paul Lendvai, „Die Ungarn. Eine tausendjäh­rige Geschichte“. € 28,– / 592 Seiten. Ecowin-Verlag, Salzburg 2020. Buchpräsen­tation: Ernst Gelegs im Gespräch mit Paul Lendvai und ExBundespr­äsident Heinz Fischer am 7. Oktober ab 19 Uhr in Thalia Wien 3, Landstraße­r Hauptstraß­e 2A
Paul Lendvai, „Die Ungarn. Eine tausendjäh­rige Geschichte“. € 28,– / 592 Seiten. Ecowin-Verlag, Salzburg 2020. Buchpräsen­tation: Ernst Gelegs im Gespräch mit Paul Lendvai und ExBundespr­äsident Heinz Fischer am 7. Oktober ab 19 Uhr in Thalia Wien 3, Landstraße­r Hauptstraß­e 2A

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