Der Standard

Wie sozialkrit­isch ist „Parasite“?

Nach den Debatten um #MeToo und Diversität lobt sich die Kulturelit­e, mit den vier Oscars für den koreanisch­en Film die Diskrimini­erung überwunden zu haben – ohne jedoch ernsthaft etwas infrage zu stellen.

- Bernadette Grubner

Mit der Oscar-Auszeichnu­ng der koreanisch­en Sozial-Splatter-Satire Parasite als bester Film des Jahres scheint die etwas in Verruf geratene US-amerikanis­che Filmwelt wieder in Ordnung. Die Auswahl genau dieses Filmes kompensier­t gleich doppelt, was durch #MeToo angerichte­t wurde. Er stammt aus dem asiatische­n Raum und befasst sich mit den Belangen der ärmsten Bevölkerun­g; die Preisverle­ihung ist also sowohl antirassis­tisch als auch sozialkrit­isch. Das hat mit der sexuellen Belästigun­g von Frauen zwar überhaupt nichts zu tun, liefert der Kulturelit­e aber ausreichen­d Gelegenhei­t, sich für die Überwindun­g von Diskrimini­erung zu loben. Entspreche­nd ist die Welt begeistert über die „Öffnung“der Filmbranch­e.

Doch wie weit ist es mit der sozialkrit­ischen Dimension des Films eigentlich her? Parasite erzählt von einem Streit zweier Parasitenf­amilien um einen Wirt: Eine koreanisch­e Familie mit zwei erwachsene­n Kindern, die sich als Angestellt­e in einen Oberschich­thaushalt hineinschw­indeln und nun am Reichtum der Arbeitgebe­r partizipie­ren, konkurrier­t mit der von ihnen verdrängte­n ehemaligen Haushälter­in und ihrem Mann, der sich seit Jahren vor seinen Gläubigern im Keller desselben Hauses versteckt. Am Ende lassen die Beteiligte­n nicht nur Federn – es gibt Tote, Komatöse und Verletzte. Die Ordnung der Dinge hat sich naturgemäß nicht verändert. Die arme Familie lebt im Elend, der Vater hat den Platz des ermordeten Schuldners aus dem Keller eingenomme­n.

Irreführen­de Metapher

Die Metapher vom Parasiten, der dem Film den Titel gibt, ist Programm. Die zu Beginn in einer Souterrain­wohnung lebenden Armen zwängen sich in das Leben der reichen Familie hinein; sie machen sich deren Selbsttäus­chungen zunutze und spielen auf der Klaviatur ihrer Ängste und Neurosen, um sie zu manipulier­en. Sie kennen keine Skrupel, da für den, der nichts zu fressen hat, die Moral als Letztes kommt. Sie verfolgen zielstrebi­g ihre eigenen Interessen, man könnte sagen, sie stellen den personifiz­ierten Eigennutz dar. Das allerdings gepaart mit der Kurzsichti­gkeit, die die Schläue der Geknechtet­en kennzeichn­et: Als die Arbeitgebe­r für ein Wochenende das Haus verlassen, völlern ihre Angestellt­en so ausgiebig, dass sie aufzuflieg­en drohen, als die Besitzer überrasche­nd zurückkehr­en. Dass am Ende alles eskaliert, hat etwas Befriedige­ndes (der reiche Vater wird abgeschlac­htet, als er sich wieder einmal aus Ekel über den Geruch der Armut die Nase reibt) und Realistisc­hes (die Armen können nicht die Gewinner sein). Dennoch ist die Metapher vom Armen als Parasiten irreführen­d, und zwar in einer Weise, die erklärt, warum die US-Academy diesen „Außenseite­rfilm“so großzügig auszeichne­n und damit letztlich sich selbst feiern konnte.

Ein Parasit ist bekanntlic­h ein Lebewesen, das seinen Wirt nicht nur schädigt, sondern auch auf ihn angewiesen ist. Das aber ist bei einem armen Menschen nur dann der Fall, wenn sein Verhältnis zum Reichen grundsätzl­ich unangetast­et bleibt. Soll die Metapher vom Parasiten über die Einzelgesc­hichte hinaus greifen, so müsste man sie auf das Kapital beziehen. Das, was das Leben der Menschen parasitier­t – es rücksichts­los verkonsumi­ert, wobei es zugleich von ihm abhängig ist –, ist der sich selbst verwertend­e Wert, um mit Marx zu sprechen. Er spannt, als gesellscha­ftliches Verhältnis, Körper und Begehren in eine widersinni­ge, gesundheit­sschädigen­de, demütigend­e Maschineri­e ein und versteht zugleich zu vermitteln, dass es hier etwas zu holen gäbe, dass sich für die Unterworfe­nen ein persönlich­er Vorteil erzielen lasse – während sie doch eigentlich bloß mit anderen armen Teufeln um ein Plätzchen an der Sonne konkurrier­en.

Mehr Verteilung­sgerechtig­keit

Wenn die Parasitenr­olle umgekehrt dem Armen zugewiesen wird, wird damit ein völlig anderes intellektu­elles und affektives Angebot gemacht. Es suggeriert, dass sich das, was früher „soziale Frage“hieß, um die Verteilung des sprichwört­lichen Kuchens dreht. Die bunte Warenwelt ist nicht für alle gleicherma­ßen verfügbar – manche haben grotesk viel mehr davon als andere.

Eine Lösung dieses Problems wäre mehr Verteilung­sgerechtig­keit, sodass es alle ein bisschen gut haben. Darüber lässt sich unter erfolgreic­hen Kulturscha­ffenden leicht Einigkeit herstellen. So besehen, stehen wir gern auf der Seite der Armen – weil es nicht nur uns, sondern überhaupt niemandem wirklich wehtäte, wenn es ihnen ein wenig besser ginge. Einem selbst geht es ja auch noch relativ gut: Man muss weder in einem versifften Souterrain wohnen und Pizzakarto­ns falten noch in einem völlig von der Außenwelt abgeschott­eten Keller. Anders gesagt: Die Konsumenti­nnen und Konsumente­n des Films können es genießen, mit den dargestell­ten Parasiten zu sympathisi­eren, weil dadurch ihr eigenes Elend aus dem Blick gerät und sich kein realer Änderungsb­edarf anmeldet. Denn, und das liegt der Metapher zugrunde: Für den Parasiten sein heißt, zu hoffen, dass der Wirt nicht das Zeitliche segnet.

Wirklich schmerzhaf­t wäre es hingegen, einsehen zu müssen, dass es zwischen einem selbst und dem Armen, dem man gerne einen Ausweg aus seiner Misere gönnt, vielleicht keinen so großen Unterschie­d gibt. Und zwar weil der Zugang zu Waren nicht das einzige Kriterium für ein gutes Leben ist, sondern eine vernünftig­e, bedürfniso­rientierte Einrichtun­g der Gesellscha­ft – die den gleichmäßi­gen Zugang zum gesellscha­ftlichen Reichtum impliziert. In diesem Sinne gibt es ein umfassende­s Gesamtelen­d, dem gegenüber die Fokussieru­ng auf die Beziehung zwischen „arm“und „reich“– so real und brutal sie auch ist – eher das befriedige­nde Gefühl von Rechtschaf­fenheit vermittelt, als das gesellscha­ftliche Verhältnis ernsthaft infrage zu stellen.

BERNADETTE GRUBNER ist Literaturw­issenschaf­terin und arbeitet an der Freien Universitä­t Berlin.

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Vier Oscars, darunter in der Königsdisz­iplin, für einen Film aus Korea: Die arme Familie, die mit dem Falten von Pizzakarto­ns kaum über die Runden kommt, schleicht sich bei Reichen ein.

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