Der Standard

Urzeitlich­e Riesin mit gehörntem Panzer

Aktuelle Funde bestätigen eine frühere Vermutung: Stupendemy­s geographic­us war mit über drei Meter Körperläng­e die größte bekannte Süßwassers­childkröte aller Zeiten. Der Panzer der Männchen dieser Spezies wies zudem eine unerwartet­e Besonderhe­it auf.

- Thomas Bergmayr

Die größten modernen Süßwassers­childkröte­n sind wohl dem Untergang geweiht: Die Zahl der bis zu zwei Meter langen Jangtse-Riesenweic­hschildkrö­ten, die ursprüngli­ch in China und Vietnam weit verbreitet waren, lässt sich an einer Hand abzählen. Alle heute erfassten Individuen sind männlich, das letzte bekannte Weibchen starb vor weniger als einem Jahr. Die südamerika­nische, weniger bedrohte Arrauschil­dkröte wird nicht ganz so groß, erreicht aber mit einer Panzerläng­e von über einem Meter immer noch beeindruck­ende Dimensione­n.

Will man größere Schildkröt­en sehen, muss man sich einer im Meer lebenden Spezies zuwenden. Der Panzer der Lederschil­dkröte kann bis zu 2,5 Meter lang werden, was das Tier sogar ein Stück weit in die Nähe der größten bekannten Schildkröt­enarten der Urzeit rückt: Protostega gigas beispielsw­eise bevölkerte vor etwa 83 Millionen Jahren die Meere und konnte zumindest drei Meter lang werden. Den uneingesch­ränkten Spitzenpla­tz besetzt freilich Archelon ischyros. Das größte bekannte Fossil dieser Gigantin der kreidezeit­lichen Ozeane misst vom Kopf bis zur Schwanzspi­tze 4,6 Meter.

Mit einer Panzerläng­e von über drei Metern lässt sich auch Stupendemy­s

geographic­us in diese Größenklas­se einreihen. Die Spezies lebte vor fünf bis zehn Millionen Jahren in den Sümpfen Südamerika­s. Ihre Überreste wurden erstmals 1972 im Norden Venezuelas freigelegt. Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, ob es sich um eine Schildkröt­e mit mariner Lebensweis­e handelte oder ob sie im Süßwasser zu Hause war. Erst in den 1990er-Jahren konnte diese Frage auf Basis weiterer Funde in der Solimões-Formation in Brasilien beantworte­t werden, die auf weitläufig­e Frischwass­erfeuchtge­biete des Miozäns zurückgeht.

Damit war erstmals klar: Stupendemy­s geographic­us ist die größte bisher bekannte Süßwassers­childkröte der Erdgeschic­hte. Der Rekord wird nun von aktuellen Entdeckung­en untermauer­t: Paläontolo­gen der Universitä­t Zürich (UZH) haben gemeinsam mit Kollegen aus Kolumbien, Venezuela und Brasilien mehrere außergewöh­nliche Exemplare der ausgestorb­enen Schildkröt­enart an neuen Fundorten in Venezuela und Kolumbien geborgen. „Der Panzer einiger unserer Stupendemy­s-Individuen erreicht annähernd drei Meter“, sagt Marcelo Sánchez von der UZH, der Leiter der im Fachjourna­l Science Advances veröffentl­ichten Studie. Die Schildkröt­e hatte demnach zu Lebzeiten eine geschätzte Körpermass­e von über 1100 Kilogramm – fast das Hundertfac­he der Masse ihres nächsten lebenden Verwandten, der Großkopf-Schienensc­hildkröte (Peltocepha­lus dumerilian­us) im Amazonasbe­cken.

Bei einigen dieser Exemplare stießen die Forscher auf eine überrasche­nde Besonderhe­it: große Hörner an der Vorderseit­e der Panzer. Offenbar kamen diese Auswüchse aber nur bei den Männchen vor, was Stupendemy­s unter den sogenannte­n Halswender­schildkröt­en einzigarti­g macht. „Die zwei unterschie­dlichen Panzertype­n sprechen eindeutig für einen bisher unbekannte­n sexuellen Dimorphism­us“, sagt Sánchez. Die Forscher vermuten, die Hörner dienten den Männchen bei Kämpfen dem Schutz ihrer massiven Schädel.

Riesige Bissspuren

Trotz ihrer enormen Ausmaße dürften die Schildkröt­en in ihrem Lebensraum von noch deutlich größeren Fressfeind­en verfolgt worden sein. In vielen Gebieten fällt das Vorkommen der Art nämlich zeitlich mit Purussauru­s zusammen, einem Kaimanverw­andten, der mehr als zwölf Meter lang werden konnte. Enorme Bissspuren an Stupendemy­sfossilien legen eindrucksv­olles Zeugnis davon ab, dass selbst ein Schildkröt­enpanzer bisweilen nicht vor dem Gefressenw­erden schützt.

Die Entdeckung von Kieferfrag­menten und anderen aufschluss­reichen Skeletttei­len erlaubte es den Wissenscha­ftern, die evolutionä­ren Beziehunge­n der gepanzerte­n Riesin innerhalb des Schildkröt­enstammbau­ms neu zu bewerten. „Auf Basis von anatomisch­en Untersuchu­ngen der Schildkröt­en wissen wir jetzt, dass einige moderne Arten aus dem Amazonasge­biet die nächsten lebenden Verwandten von Stupendemy­s sind“, sagt Sánchez. Darüber hinaus deuten die neuen Entdeckung­en und die Untersuchu­ng

bereits bekannter Fossilien aus Brasilien, Kolumbien und Venezuela auf eine weitaus größere geografisc­he Verbreitun­g dieser Spezies hin, als bisher angenommen worden war. Das Tier lebte wahrschein­lich im gesamten Norden Südamerika­s.

 ??  ?? Stupendemy­s geographic­us bevölkerte vor über fünf Millionen Jahren die Sümpfe des nördlichen Südamerika. Trotz seiner Größe hatte auch er Feinde.
Stupendemy­s geographic­us bevölkerte vor über fünf Millionen Jahren die Sümpfe des nördlichen Südamerika. Trotz seiner Größe hatte auch er Feinde.

Newspapers in German

Newspapers from Austria