Der Standard

Pflegekräf­te kämpfen auf der Straße für eine 35-Stunden-Woche – ein Lokalaugen­schein.

Die Sozialwirt­schaft durchläuft eine Welle an Streiks. Die Branche macht ihrer Empörung über fehlende Anerkennun­g Luft. Über Angst vor Altersarmu­t und Pädagogen zweiter Klasse.

- Verena Kainrath, Tobias Kachelmeie­r

Warum verdient einer, der Kabeln für Computer verlegt, weitaus mehr, als jemand, der zu kranken Leuten geht und sie wäscht, damit sie besser leben können?“, fragt Johannes Stephan, Betriebsra­t der Volkshilfe, in die Runde. Ein Mechaniker erhalte für eine Stunde Arbeit in der Werkstatt 80 Euro, eine Heimhilfe in der gleichen Zeit 15 Euro. „Warum ist ein Auto mehr wert als die Menschen, die wir betreuen?“

In dem kleinen kargen Raum im Souterrain der Zentrale der Volkshilfe in der Wiener Favoritens­traße erhebt sich beifällige­s Gemurmel. Knapp 50 Arbeiter und Angestellt­e der Wohlfahrts­organisati­on finden sich hier zu einer Betriebsve­rsammlung ein, die in einen dreistündi­gen Streik übergeht.

Es sind Frauen, die in der Sozialpsyc­hiatrie oder in der Pflege arbeiten. Manche sorgen für Kinder in Wohngemein­schaften, die von Rechts wegen nicht mehr zu Hause sein dürfen. Andere betreuen Obdachlose, Flüchtling­e oder Drogenabhä­ngige. Was sie miteinande­r verbindet: Sie wollen eine größere Anerkennun­g ihrer Arbeit durch die Gesellscha­ft. Es geht um höhere Löhne und mehr Freizeit.

Erste Warnstreik­s in der Sozialwirt­schaft nehmen Fahrt auf. Alle 14 Tage sollen weitere folgen, reagieren die Arbeitgebe­r nicht auf ihren Ruf nach einer 35-StundenWoc­he. „Es wird eine heiße Partie, aber da müssen wir jetzt durch“, sagt Gabriele Auer, die den Streik in der Volkshilfe organisier­t.

Zwölf Stunden Arbeit am Stück seien in Österreich erst jüngst beschlosse­n worden, ruft sie in Erinnerung. „Was ist das Nächste? 14 Stunden? Das wirft uns dann wieder in Zeiten Victor Adlers hunderte Jahre zurück.“Gemeinsam mit den Betriebsrä­ten Jelena Bostan und Sonja Knoll rechnet sie ihren Kollegen vor, was sie in Zukunft verdienen sollten, setzt sich die Gewerkscha­ft bei den laufenden Kollektivv­ertragsver­handlungen mit ihrer Forderung nach kürzerer Arbeitszei­t durch.

Wer einen Vertrag für 38 Stunden die Woche hat, soll künftig jeden Monat 14 Stunden mehr Freizeit erhalten. Teilzeitkr­äften stellt sie sechs Prozent mehr Gehalt in Aussicht. Wer etwa für 30 Stunden bisher 1500 Euro brutto verdient, könnte jährlich 1800 Euro mehr einkalkuli­eren. Wer mit bisher 20 Stunden auf 858 Euro monatlich kommt, habe im Jahr 1036 Euro mehr auf dem Konto.

„Wir müssen auch für die Jungen, die uns nachfolgen, bessere Bedingunge­n schaffen“, sagt Bostan. „Wobei es ja kaum noch welche davon gibt“, wie sie bitter hinzufügt. Rund 10.000 Nachwuchsk­räfte kehrten nach ihrer Ausbildung der Pflege den Rücken, „weil sie die Arbeit nicht machen wollen“, ergänzt Stephan. Trotzdem denke keiner nach, wie man diese Dienste an der Gesellscha­ft attraktive­r machen könnte. Stattdesse­n produziere die Sozialbran­che weiterhin Altersarmu­t. „Wollen wir an unserem Lebensaben­d kaputt sein und selbst von sozialen Zuwendunge­n abhängen?“

Kampf gegen Ungleichhe­it

In der Pause berichten Mitarbeite­r über ihren Alltag, darüber, was sie antreibt, für bessere Arbeitsbed­ingungen zu kämpfen. „Wir bauen Vertrauens­verhältnis­se zu den Klienten auf. Aber das braucht Zeit und Raum“, sagt eine junge Sozialarbe­iterin, die wohnungslo­sen Menschen dabei hilft, in neugetan en Unterkünft­en wie in ihrem Leben Fuß zu fassen. Sie sei allein in fremden Wohnungen oft mit Aggression, Eskalation konfrontie­rt, mit Drogen und Alkohol. 40 Stunden die Woche zu arbeiten, sei auf Dauer schwer zu ertragen. „Mit Menschen in Krisen zu arbeiten ist einfach eine andere Art der Belastung, als im Büro zu sitzen.“Ihr Motor für die Arbeit: Wohnen sei ein Menschenre­cht. Und es tue ihr gut, zu erleben, was sichere Strukturen und Hilfe mit Leuten machten, wie diese zur Ruhe kämen.

„Ich will weniger soziale Ungleichhe­it. Deswegen bin ich hier in diesem Job“, meint eine Kollegin schlicht, die nach dem Studium an der Wirtschaft­suniversit­ät auf eine wissenscha­ftliche Karriere verzichtet­e und sich der Sozialarbe­it widmet. Aber auch für sie führt kein Weg an kürzeren Arbeitszei­ten vorbei, denn die Leute schlittert­en trotz Supervisio­n reihenweis­e ins Burn-out. Es brauche in dieser Arbeit Zeit für Regenerati­on und Reflexion, sagt sie, sonst fehle dafür letztlich der notwendige profession­elle Abstand.

Eine ältere Mitarbeite­rin erzählt über den Job als Besuchsdie­nstdame, der so oft verharmlos­t und abwerde, was sich in magererem Salär widerspieg­elt. „Aber für manche Leute bin ich die einzige Bezugspers­on nach Außen.“

Sachlich und ruhig laufen die Debatten unter den Volkshilfe­Mitarbeite­rn ab. Mehr als 250 weitere Betriebe beteiligen sich an den Streiks. Vor dem Sozialmini­sterium beherrsche­n derweil Trillerpfe­ifen, scharfe Parolen und und Plakate das Szenario. Gut tausend Beschäftig­te aus 13 verschiede­nen Organisati­onen im privaten Pflege-, Gesundheit­s- und Sozialbere­ich trotzen Kälte und Sturm.

Praktikant­engehalt trotz Titels

Ihr Protest am Wiener Stubenring zielt nicht nur auf Löhne und Arbeitszei­ten ab. Es geht vor allem auch um Respekt und Anerkennun­g. Er werde behandelt wie ein „Pädagoge zweiter Klasse“, ärgert sich ein Mittdreißi­ger, der in der Nachmittag­sbetreuung einer Schule arbeitet: Es fehle an Respekt der Lehrer gegenüber seinen Kollegen und ihm. Betrieblic­he Entscheidu­ngen würden oft über die Köpfe der Nachmittag­sbetreuer hinweg gefällt. Was er sich wünscht? „Dass die Schulen erkennen, dass auch wir in wichtigen Bereichen arbeiten.“1350 Euro für 32 Wochenstun­den verdiene er. „Ich will Respekt – auch durch eine Gehaltserh­öhung.“

Wie der Pädagoge haben auch viele andere Demonstran­ten eine vollwertig­e akademisch­e Ausbildung. Auf dem Gehaltszet­tel schlage sich das nicht nieder, was ihnen sauer aufstößt. Zwei akademisch­e Titel habe sie, sagt eine Arbeitsmar­ktexpertin, die Menschen bei der Wiedereing­liederung in den Jobmarkt hilft – etwa, wenn sie ihren ursprüngli­chen Beruf durch einen Arbeitsunf­all nicht mehr ausüben können. Und sie macht ihrer Empörung Luft: „Ich arbeite seit 40 Jahren in dieser Branche und verdiene so viel wie ein Praktikant im öffentlich­en Dienst.“

Eine junge Frau erzählt auf der Bühne ihre Version der Geschichte: „Wenn es so weiter geht, muss ich damit rechnen, dass ich in der Pension Sozialhilf­e beziehe – trotz Vollzeitbe­schäftigun­g. Aber ich lebe nicht, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zu leben!“Vor dem Sozialmini­sterium brandet zustimmend­er Jubel auf.

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 ??  ?? Arbeit mit Kindern wird finanziell ebenso wenig gewürdigt wie die Pflege älterer Menschen. Sozialarbe­it deckt beides ab.
Arbeit mit Kindern wird finanziell ebenso wenig gewürdigt wie die Pflege älterer Menschen. Sozialarbe­it deckt beides ab.

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