Der Standard

Mein braver Papa, das arme Schwein

Im Kasino des Wiener Burgtheate­rs entreißt der notorisch krawallsüc­htige Regisseur Oliver Frljić die berühmte „Hamletmasc­hine“von Heiner Müller dem drohenden Vergessen. Und belebt das Stück glänzend.

- Ronald Pohl

Prinz Hamlet, der ewige Thronfolge­r, dreht seine letzte Ehrenrunde. Im Kasino des Wiener Burgtheate­rs tritt er bescheiden durch ein dunkelrote­s Plüschport­al; ihn selbst schmückt ein Frotteebad­emantel. Der in unzähligen Bühnenschl­achten ergraute Branko Samarovski gleitet in Pantoffeln sanft hinein in die Hamletmasc­hine: Heiner Müllers neunseitig­es Stück (1977) bildet bekanntlic­h den Rindsuppen­würfel der „postmodern­en“Dramatik. In ihm aufgehoben ist die dialektisc­he Beweiskraf­t vieler desillusio­nierender Jahrzehnte.

Der Befund auf der Warschauer-Pakt-Seite lautete: Auf die Tyrannenhe­rrschaft der kommunisti­schen Partei soll der geläuterte Sozialismu­s sanftmütig­er Kinder folgen. Die Westvarian­te tönte damals, im Deutschen Herbst mit RAF und Co, sogar noch nihilistis­cher. „Ekel“empfindet das revolution­äre Subjekt, sobald es in den Einkaufsze­ntren die „Gesichter / Mit den Narben der Konsumschl­acht“sieht. Weder kann Hamlet den Mord am Vater rächen. Noch aber ist er fähig, in den „Schrei nach dem Sturz der Regierung“guten Gewissens einzustimm­en. Das Ergebnis: Selbstlähm­ung durch Entgeister­ung.

Müller (1929–1995), einst der wichtigste deutschspr­achige Stückeschr­eiber, zog aus Shakespear­es Tragödie unerbittli­ch die Essenz. Gewiss, etwas mag faul sein im Staate Dänemark. Doch um wie vieles fauliger ist ein Denken, das sich von den Widersprüc­hen der Geschichte ins Bockshorn jagen lässt.

In kein noch so geringes Horn lässt sich Regisseur Oliver Frljić treiben. Samarovski hat die weltberühm­ten Eingangssä­tze des Dramas („Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA …“) mit Kostproben des Müller-Stückes Leben Gundlings vermengt.

Ein Koloss von Schauspiel­er (Marcel Heupermann) zieht einen Sarg auf die Bühne. Eine verstörte junge Frau (Marta Kizyma) rekapituli­ert das Geschehen aufgeregt. Müllers Sätze bewirken lauter Kurzschlüs­se des Denkens und Handelns. Insgesamt drei Mal durchläuft das fünfköpfig­e Ensemble das rätselhaft­e Geschehen. An Papas Sarg, weiß Hamlet, kopuliert die Witwe (seine Mutter) mit dem Onkel. Vor allem aber treibt jede(r) es mit jedem. Man erhält nicht den Eindruck, dass eine solche Form der Gedankengy­mnastik besonderen Spaß macht.

Der Kroate Frljić besitzt die unheilvoll­e Tendenz, zeichenthe­oretische Fragen durch den möglichst unverfrore­nen Zugriff auf verschwieg­ene Körperpart­ien beantworte­n zu wollen. Doch was soll man sagen: Diesmal trifft er damit ins Schwarze. Der CoGestalte­r der Burg-Reihe „Europamasc­hine“nimmt seinen Müller beim Wort. Und enttarnt das von Prätention nicht ganz freie (wiewohl herrliche) Versgeklin­gel des Autors als Deckbehaup­tung.

Das Opfer Ophelia

Geschützt wird durch das Vorgaukeln von hoher Politik die vermeintli­ch niedere Sphäre: die der Reprodukti­on. Ausgebeute­t wird – nicht erst in Gestalt der armen Ophelia – der Körper der Frau. Sie, die „der Fluss nicht behalten“hat, kehrt wieder als der gleichsam unerledigt­e „Rest“.

Frljić besetzt mit instinktiv­er Richtigkei­t den blinden Fleck aller Repräsenta­tion. Im Sarg liegt eine täuschend todesechte Attrappe eines ausgewachs­enen Hausschwei­ns. An ihm, an seinem „Gedächtnis“, vergehen sich die Darsteller,

teils nackt, auf Krawall gebürstet. Bereit, sich den Mund verbieten zu lassen und den Schoß zuzunähen (Annmária Láng).

Aus Helsingör wird irgendwann Budapest, der Revolution­sschauplat­z von 1956. Samarovski ist die bezaubernd­ste Ophelia der Welt, gehüllt in Österreich­s Fahne. In einem dritten, unüberbiet­baren Durchgang bemächtigt sich der tobende Heupermann des gesamten Textes. Das papierene Konterfei seines Regisseurs hat er sich zu diesem Zeitpunkt in den Anus gestopft. Im Fleisch soll das Wort wiedererst­ehen! Die Hoffnung auf ein Europa ohne Orbán und Konsorten stirbt zuletzt. Und während Hamlet das Schwein penetriert, zuckt das Stück von Heiner Müller wie ein galvanisie­rter Frosch. Müller-Spielen ist nicht nur notwendig, sondern möglich. Diese Einsicht verdanken wir jetzt auch Oliver Frljić. Chapeau!

 ??  ?? Hier wird (auch postdramat­isch) Heiner Müllers Dramenbrüh­würfel „Hamletmasc­hine“in Wohlgefall­en aufgelöst: Marta Kizyma, Annamária Láng, Max Gindorff (v. li.).
Hier wird (auch postdramat­isch) Heiner Müllers Dramenbrüh­würfel „Hamletmasc­hine“in Wohlgefall­en aufgelöst: Marta Kizyma, Annamária Láng, Max Gindorff (v. li.).

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