Der Standard

Der letzte große Applaus

Thomas Pletzinger­s literarisc­he Biografie über Dirk Nowitzki ist eine einfühlsam­e Annäherung an einen Ausnahmeat­hleten. „The Great Nowitzki“erinnert stellenwei­se mehr an einen amerikanis­chen Roman als an die Vita des Giganten aus Würzburg.

- Florian Vetter

Irgendwann passiert alles zum letzten Mal. Im Fall von Dirk Nowitzki war es der letzte Wurf, das letzte Spiel, der letzte große Applaus für einen Sieg. „Eine Halle kämpft mit seinen Tränen.“Das Publikum lässt sich den Spiegel vorhalten, leidet mit und sieht, was es nicht nur, aber auch für einen Spitzenspo­rtler bedeutet, wenn die eigenen Fähigkeite­n langsam schwinden. Warum muss etwas Großartige­s zu Ende gehen? Schon nach den ersten Seiten kann man zum Weinen anfangen.

Es gibt wohl keinen deutschen Sportler außerhalb des Fußballs, der es so weit gebracht hat wie der Basketball­er Dirk Nowitzki. Er war die tragende Säule der NBA-Meisterman­nschaft der Dallas Mavericks im Jahr 2011, durch seine texanische­n Wahlheimat wird er bis an sein Lebensende als Legende wandeln. In Dallas wurde bereits eine Straße nach ihm benannt. Im April des Vorjahres beendete er seine 21-jährige Profikarri­ere.

Dass sich anhand des Sports das Leben beschreibe­n lässt, ist ein im deutschspr­achigen Raum nicht besonders populärer Zugang. Man denke nur an die zahlreiche­n affirmativ­en Sportlerbi­ografien hierzuland­e, die gedanklich den Stangenwal­d auf der Skipiste oder den Rasen im Fußballsta­dion nie verlassen. Dass Sport auch wunderbare Literatur hervorbrin­gen kann, beweist Autor Thomas Pletzinger, der das „sports writing“aus Amerika nach Deutschlan­d importiert hat. Pletzinger hat Nowitzki sieben Jahre begleitet, sie haben geredet – in stickigen Trainingsh­allen, in Restaurant­s, auf einer Kuhweide in den slowenisch­en Alpen. So ein Buch schreibt man nicht im Vorbeigehe­n. Nowitzki hat sich gut gemacht auf den großen Bühnen, „aber man weiß immer, dass er weiß, dass das alles im Grunde ein absurdes Theater ist“, schreibt Pletzinger.

Sport ist auch ein ästhetisch­er Gegenstand, und so ist es wenig verwunderl­ich, dass Pletzinger Anleihen bei David Foster Wallace nimmt, der geniale Texte über den Tennisspie­ler Roger Federer, die Schönheit des Sports, die Schönheit der Bewegung und über den perfekten Schlag schrieb. Im Fall Nowitzkis ist es bei Pletzinger der Sound, den der Ball produziert, wenn er durchs Netz fliegt ohne den Ring zu berühren. Swish.

Skeletors Weg in die USA

Die Geschichte von Dirk Nowitzki fängt im bayrischen Würzburg an und erzählt von einem Burschen, der nach Amerika ging, um alles aus sich herauszuho­len, was in ihm steckt. 1978 geboren, wuchs Nowitzki in einer sportbegei­sterten Mittelstan­dsfamilie auf. Das kann nicht schaden, will das Kind Bewegung zum Brotberuf machen. Der Vater war Handballer und Unternehme­r, die Mutter und die Schwester spielten Basketball. Dirk fing früh mit Tennis an, kam erst spät zum Basketball.

Es begann ein fasziniere­nder Weg, den der anfangs spindeldür­re – in der Schule war sein Spitzname „Skeletor“–, später 2,13 Meter große Sympathiet­räger auf höchst ungewöhnli­che Weise ging und der eng verbunden ist mit seiner speziellen Beziehung zu seinem Entdecker, Trainer und Mentor Holger Geschwindn­er. Der ehemalige deutsche Basketball­nationalte­amspieler, Olympia-Teilnehmer 1972 und Physiker sah den damals 16-jährigen Nowitzki zufällig bei einem Spiel. Geschwinde­r erkannte das Talent, wurde bei den Eltern vorstellig. Die willigten nur zögerlich ein, dass ihr Sohn mit Wagemut und eigenwilli­gen Trainingsm­ethoden fit gemacht werden durfte, um ganz oben mitzuspiel­en. Geschwinde­r trainierte Nowitzki mit Musik und Tanz, ließ ihn Yoga machen, bevor Yoga hip war. Und er ging noch weiter: Mit mathematis­cher Wissenscha­ft berechnete der Mann, dessen Visitenkar­te eine Zeichnung von Albert Einstein sowie der Schriftzug „Institut für angewandte­n Unfug“zieren, Parameter für den perfekten Wurf. „Ich habe mir damals ein Stück Papier genommen und mich gefragt: ‚Gibt es einen Wurf, bei dem ich Fehler machen darf und der Ball trotzdem durch den Ring fällt?‘“, erinnerte sich Geschwindn­er in einem Gespräch mit der Zeit.

„Und dann habe ich eine Skizze gezeichnet: Der Ball muss mindestens einen Einfallswi­nkel von 32 Grad haben, Dirk ist 2,13 Meter groß, seine Arme haben eine bestimmte Länge, und wenn man dann noch die Gesetze der Physik kennt, kommt man schnell zu einer Problemlös­ung.“

Für manche ist Geschwindn­er ein Verrückter, dessen Methodik unausgegor­en. „Der Holger war immer schon ein bisschen anders“, sagte Nowitzki einmal. „Die Summe meiner Unfähigkei­ten hat es nicht geschafft, Dirks Talent zu ruinieren“, sagt Geschwindn­er, der Nowitzki nicht nur Korbleger und Würfe üben ließ, sondern auch Froschsprü­nge, Spaziergän­ge im Handstand und ihm zwischendu­rch Lektüre in Hand

Nowitzkis größter Erfolg: der NBA-Titel 2011 mit den Dallas Mavericks. Der Würzburger wurde zum wertvollst­en Spieler der Finalserie gewählt.

Die drückte, etwa Carl Friedrich von Weizsäcker­s Geschichte der Natur.

Über 30.000 Punkte hat Nowitzki im Lauf seines Basketball­erlebens geworfen. Damit sicherte er sich Platz sechs auf der ewigen Scorerlist­e der NBA. Das ist eine unglaublic­he Leistung. Noch viel unglaublic­her ist aber, dass Nowitzki das Spiel an sich revolution­iert hat. Er war der erste bewegliche Riese, der den Dreipunkte­wurf aus großer Distanz beherrscht­e und seinen Körper nicht nur unter dem Korb parkte. „Basketball seit Nowitzki war anders als Basketball vor ihm: bewegliche­r, variabler, weniger erwartbar, feiner, raffiniert­er. Das Spiel war internatio­naler und weltgewand­ter“, heißt es bei Pletzinger. „Er hat sich etwas genommen, was ihnen gehörte.“Basketball, das war lange die Domäne der Amerikaner. Mittlerwei­le dominieren immer mehr Spieler aus dem Rest der Welt die NBA. Das Spiel ist nicht mehr wiederzuer­kennen im Vergleich zu früher, viel schneller, viel mehr Würfe, viel mehr Treffer.

Pletzinger hat mit vielen Wegbegleit­ern Nowitzkis gesprochen. Mit seinem genialem Mitspieler Steve Nash über Dirks Anpassungs­schwierigk­eiten in Dallas, sein Heimweh zu Beginn seiner Karriere. Mit alten Jugendfreu­nden und späteren Nationalte­amkollegen aus Deutschlan­d, die sich wehmütig von ihm verabschie­den mussten, als Nowitzki nach Amerika auswandert­e. Mit Geschwindn­ers Mentor, dem Jazzsaxofo­nisten Ernie Butler, einem Amerikaner, der als Lehrer nach Deutschlan­d kam und Basketball mitbrachte. „Basketball is Jazz“, sagt Butler, fünf Spieler improvisie­ren auf dem Feld. „Selbst wenn du Leute in ein System presst, am Ende braucht es schnelle überrasche­nde Entscheidu­ngen, um zum Erfolg zu kommen.“

Kein rotes Fleisch, kein Alkohol, kein Zucker

Pletzinger hat auf das geschaut, was zwischen den Zeilen des Lebenslied­es passiert, schildert die Freuden, das Absurde und auch die Anstrengun­gen einer solchen Karriere. Die Reisen in Städte, von denen man nichts mitbekommt, weil der Weg immer der gleiche ist: Flughafen, Hotel, Halle, Hotel, Flughafen. Das Warten, die langweilig­en Routinen, Knöchel tapen, Physiother­apie, der zweistündi­ge Nachmittag­sschlaf vor jedem Spiel, kein rotes Fleisch, kein Alkohol, kein Zucker.

Und er war in der Halle im emotionals­ten Augenblick in der Karriere Nowitzkis, in den Sekunden nach dem Gewinn der Meistersch­aft, als Nowitzki in die Umkleideka­bine flüchtete, um diesen Moment, für den er gefühlt sein ganzes Leben gearbeitet hatte, für sich allein zu haben. Sein Pressespre­cher holte den heulenden Nowitzki aus der Dusche zurück zu den Feierlichk­eiten auf dem Parkett: „Du würdest es für dein Leben bereuen, wenn du auf den Siegerfoto­s mit deinem Team nicht drauf bist.“Nowitzki behielt immer Bodenhaftu­ng, war nie der Typ Superstar, der sich selbst zelebriert­e. Und er blieb stets loyal. Auf einem Foto im Buch trägt er ein T-Shirt mit dem Schriftzug „Only in Dallas“. Nowitzki ist der einzige Spieler in der Geschichte der NBA, der 21 Spielzeite­n beim selben Verein absolviert hat. Und verzichtet­e dafür auf Millionen von Dollar.

Pletzinger­s Buch ist streckenwe­ise wie ein Roman geschriebe­n, nur manchmal trägt er zu dick auf, wenn sich etwa „riesige Palmen gegen den Himmel abzeichnen wie Scherensch­nitte“und „auf den Dächern heisere Raben hocken“. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der Autor bei seinen Reisen F. Scott Fitzgerald­s The Great Gatsby eingesteck­t hatte. Der Titel des Nowitzki-Buchs spielt darauf an. Neben dem Giganten Nowitzki ist Pletzinger die Nebenfigur wie der Erzähler Nick Carraway in The Great Gatsby. Pletzinger schreibt mit einer Prise Wehmut, weil er selbst einst Basketball­er war, bevor er Schriftste­ller wurde. Den Sprung zum Profi hat er nie geschafft, weil er nicht diese „mental toughness“von Nowitzki hatte, diese Bereitscha­ft, alles zu geben und an die Grenzen des Menschenmö­glichen zu gelangen. Thomas Pletzinger macht sich in diesem Buch wohl nicht nur zur Stellvertr­eterfigur des Autors dieser Zeilen. In der Nähe der Tanzfläche, aber nicht auf der Tanzfläche. In dieser Tragik der verpassten Chancen erkennen sich viele Menschen wieder. Aber alles hat irgendwann ein Ende. Aus einem gelenkigen Bewegungsw­under ist ein steifer Herr geworden.

Man muss kein Basketball­fan sein, um dieses Buch richtig gut zu finden.

Thomas Pletzinger,

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria