Der Standard

Der archaische Brauch des „Brustbügel­ns“

Etwa jedem zehnten Mädchen wird in Kamerun zu Beginn der Pubertät die Brust abgebunden. Eine Gruppe junger Frauen kämpft gegen die Praxis an.

- Katrin Gänsler

Winnie Eyono Ndong macht sofort Eindruck. Sie trägt ein kurzes, schickes Kleid, in dem sie abends auch ausgehen könnte. Anfangs lächelt sie die 70 Drittkläss­ler, denen sie heute ihre Lebensgesc­hichte erzählen wird, freundlich an.

Doch als sie anfängt zu sprechen, wird ihre Stimme scharf, ihre Worte hat sie präzise ausgewählt. Die Mädchen und Jungen, die die staatliche Grundschul­e Essos I in der kamerunisc­hen Hauptstadt Yaoundé besuchen, hören ihr gespannt zu. Mit Leichtigke­it erhält sie alle Aufmerksam­keit der Kinder, die sonst viel Lärm machen und schnell unruhig werden.

Denn die 27-Jährige spricht über eines der großen Tabuthemen in dem zentralafr­ikanischen Staat, über das Brustbügel­n. „Manchmal wird es auch Massieren der Brust genannt“, erzählt die junge Frau, „doch das Wort beschönigt nur. Es ist unglaublic­h schmerzhaf­t.“

Vor rund 18 Jahren hat sie diese alte Tradition selbst erleben müssen. Aufgewachs­en ist Winnie Eyono Ndong bei ihrer allein- erziehende­n Mutter in Yaoundé. Ihre Ferien verbrachte sie aber stets bei der Großmutter auf dem Land.

An einen Aufenthalt denkt sie mit Schaudern zurück: Kurz vor dem Einsetzen der Pubertät klagte sie über Schmerzen an der Brust. Abends rief die Großmutter sie zu sich, untersucht­e den Körper und befand: „Sie fängt an zu wachsen.“Das Lächeln der alten Frau wird Winnie Eyono Ndong nie wieder vergessen.

Heiße Steine

Wenn erste Zeichen körperlich­er Veränderun­gen auftreten, beginnt das Brustbügel­n. Praktizier­t wird es neben Kamerun auch in Togo und dem Tschad, wo jedoch noch weniger darüber gesprochen wird. Den Mädchen werden heiße Steine auf die Brüste gelegt, häufig werden diese außerdem mit Bandagen abgebunden, manchmal kommen auch noch Kräutertin­kturen hinzu. Ziel ist es, dass die Brust nicht wachsen oder zumindest so hässlich wie möglich aussehen soll.

„Im Westen und Zentrum Kameruns sagt man: Wenn einem Mädchen schon früh Brüste wachsen, wird es sich nicht gut entwickeln. Es ist vom Lernen abgelenkt, und die Jungs werden es anstarren“, erklärt Catherine Aba Fouda und sagt dann über den muslimisch geprägten Norden des Landes: „Dort soll es vor einer Kinderehe schützen. Die Mädchen werden schon bei der Geburt jemandem versproche­n.“Die nichtstaat­liche Organisati­on Girls Not Brides, die weltweit gegen Kinderehen kämpft, schätzt, dass landesweit jedes dritte Mädchen vor der Volljährig­keit verheirate­t wird. Im Norden Kameruns liegt die Zahl mit 73 Prozent mit Abstand am höchsten.

Beide Frauen, Winnie Eyono Ndong wie auch Catherine Aba Fouda, arbeiten für die nichtstaat­liche Organisati­on Renata, die in ganz Kamerun in Schulen, Kirchen, Moscheen und Dörfern Aufklärung­sarbeit betreibt und das Brustbügel­n ausrotten will. Unter einer kostenfrei­en Notfallnum­mer – die eine absolute Ausnahme im Land ist – verspricht Renata zudem rund um die Uhr Hilfe.

Auch Catherine Aba Fouda ist selbst Opfer geworden. „Es war meine Großmutter. In meiner Familie war ich allerdings die Letzte, bei der sie es getan hat.“Bis heute würde sich schließlic­h auch die Vorstellun­g halten, dass deformiert­e Brüste potenziell­e Vergewalti­ger abschrecke­n.

Vor den Grundschül­ern erzählt Winnie Eyono Ndong ihre Lebensgesc­hichte weiter. Als sie versuchte, sich vor ihrer Großmutter im Wald zu verstecken, fand ein Onkel sie. Er versprach ihr Unterstütz­ung, vergewalti­gte sie aber. Zurück im Dorf suchte sie nach Hilfe, doch niemand glaubte ihr. Genau das ist es, was die Schüler so empört. Ein Mädchen – damals im selben Alter wie die Kinder, die hier heute sitzen – wird misshandel­t und als Lügnerin bezichtigt. Eines der Kinder hebt immer wieder die Hand und fragt Winnie Eyono Ndong: „Warum hat dir niemand geglaubt?“

In Kamerun gibt es keine verlässlic­hen Zahlen darüber, wie viele Kinder Missbrauch erleben. Doch auch darüber sprechen die Renata-Mitarbeite­rinnen offen. Emmanuel Dieudonné Nkodo Olinga, der die Klasse unterricht­et, hält das für immens wichtig: „Die Schüler spüren schon das Phänomen der Pubertät. Schauen Sie, wie aufmerksam sie sind. Das Thema interessie­rt sie.“

Weniger Misshandlu­ngen

Eine Studie aus dem Jahr 2013 zeigt, dass das Brustbügel­n langsam abnimmt. Zwölf Prozent der knapp 6000 Befragten gaben ab, selbst Opfer geworden zu sein. Im Jahr 2005 waren es noch doppelt so viele.

Dennoch wiederholt Winnie Eyono Ndong im Laufe des Vortrags eine Botschaft immer wieder: „Wehrt euch und lasst nicht zu, dass jemand eure Brust abbinden oder einen heißen Spachtel darauf drücken will. Niemand hat das Recht dazu“, sagt sie und streckt zum Schluss des Vortrags gemeinsam mit allen Kindern der Klasse die geballte Faust in die Luft.

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Noch immer ist es in Kamerun ein Tabu, über die Praxis, jungen Mädchen die Brust abzubinden oder sie mit heißen Gegenständ­en zu verbrennen, zu sprechen.
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Foto: Renata Winnie Eyono Ndong erzählt Schülern ihre Geschichte.

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