Der Standard

„Ich bin das Osteuropa-Bashing leid. Es stärkt die Regime, die in der Tat zu kritisiere­n sind.“

Im Wiener Burgtheate­r wurde am Sonntag über das Erbe der demokratis­chen Revolution­en vor 30 Jahren diskutiert. Mehr Verständni­s für Osteuropa erschien als ein Gebot der Stunde.

- Gerald Schubert

Als das Bonmot mit dem Aquarium und der Fischsuppe kam, da war es ein wenig so, als säße auch Lech Wałęsa mit auf der Bühne. Den Kapitalism­us in Kommunismu­s zu verwandeln, so hatte es der ehemalige Dissident und spätere polnische Präsident einmal formuliert, das sei, als würde man ein Aquarium aufwärmen und auf diese Art Fischsuppe zubereiten. Der umgekehrte Weg, nämlich aus der Suppe wieder ein Aquarium mit lebenden Fischen zu machen, der sei wesentlich schwierige­r – ja eigentlich unmöglich.

Es war Basil Kerski, Leiter des Europäisch­en Solidarnoś­ć-Zentrums in Danzig, der am Sonntag bei der vom Standard mitorganis­ierten Debatte im Wiener Burgtheate­r an Wałęsa erinnerte, an den „vergessene­n Architekte­n des neuen Europas“, den „einfachen Elektriker mit dem hochintell­igenten Humor“.

„Was bleibt von 1989?“lautete die Grundfrage der Diskussion. Mit dem berühmt gewordenen Zitat Wałęsas wollte Kerski seine These illustrier­en, wonach die Transforma­tion den Menschen in den einst kommunisti­schen Staaten Mittel- und Osteuropas enorm viel abverlangt hätte: „Nun erleben wir in Polen eine neue Biedermeie­rzeit. Die Menschen sind ermüdet von den historisch­en Umwälzunge­n“, so Kerski.

Nach dreißig Jahren würden die Polen oder die Ungarn in relativen Wohlstands­gesellscha­ften leben. „Aber natürlich gibt es auch neue Ängste um diesen neuen Wohlstand“– und eine neue Sehnsucht nach dem Rückzug ins Private. Für Kerski erklärt das auch, warum 2015 in Polen eine Partei die Wahlen gewann, die sich konservati­v gäbe, in Wahrheit aber den Pluralismu­s abschaffen wolle.

Gegen Ost-Bashing

Das Plädoyer für mehr Verständni­s für die Gemütslage vieler Osteuropäe­r zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussion, die von Standard- Redakteuri­n Lisa Nimmervoll moderiert und vom Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) sowie der Erste-Stiftung mitveranst­altet wurde. „Ich bin das OsteuropaB­ashing leid“, brachte es der am IWM tätige Philosoph und Slawist Ludger Hagedorn auf den Punkt. „Es führt zu Solidarisi­erungseffe­kten und dazu, dass die Regime, die in der Tat zu kritisiere­n sind, gestärkt werden.“

Oft wird osteuropäi­schen Ländern etwa mangelnde Solidaritä­t in der Flüchtling­spolitik vorgeworfe­n. Doch auch die ungarische Schriftste­llerin Noémi Kiss warnt vor Schwarzwei­ßmalerei und verweist auf den rasanten wirtschaft­lichen Wandel, der Anfang der 1990er-Jahre in den ehemals kommunisti­schen Staaten Einzug gehalten hat – und einen ebenso rasanten Mentalität­swandel nach sich zog: „Wenn westeuropä­ischer Kapitalism­us plötzlich in Osteuropa ankommt, wenn plötzlich der kapitalist­ische Egoismus da ist – wie soll ich dann nicht egoistisch sein, wenn ich doch egoistisch sein muss?“

In dieselbe Kerbe schlug Radek Knapp, in Warschau geborener österreich­ischer Schriftste­ller und Philosoph: Mit dem ersehnten „Westen“sei der Kapitalism­us gekommen, und mit ihm auch das Zauberwort „Leasing“, das Kaufen auf Pump. Irgendwann käme immer der Moment der Abrechnung: „Inzwischen hat sich eine unglaublic­he Verbitteru­ng aufgeschau­kelt.“Polen sei oft ein geteiltes Land gewesen – im geopolitis­chen Sinn. „Nun aber hat sich das Land in Gewinner und Verlierer geteilt“– für Knapp eine der Ursachen für den Erfolg von Jarosław Kaczyński und seiner Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS).

Geschenk Europa

Von 1989 bleibt aber auch die Erinnerung an einen demokratis­chen Aufbruch, der nicht nur Umwälzunge­n im Osten des Kontinents gebracht, sondern letztlich die Teilung ganz Europas beendet hat: „Wir haben bis heute nicht begriffen, dass uns durch die Ereignisse von 1989 Europa wieder geschenkt wurde“, sagte der ehemalige Vizekanzle­r Erhard Busek. „Davor nämlich hat es Europa eigentlich gar nicht gegeben.“

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Der rasante Wandel in Mittel- und Osteuropa beschäftig­te die Debattente­ilnehmer auch deshalb, weil viele Menschen auf der Strecke blieben.

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