Der Standard

Putins Wende gen Osten startet im hohen Norden

Der kremlnahe Konzern Novatek eröffnet in der russischen Arktis seine Flüssiggas­produktion. Das erste sichtbare Zeichen der seit langem von Russlands Nomenklatu­ra propagiert­en Wendung nach Asien.

- André Ballin aus Sabetta

Eine Flugstunde von Sabetta entfernt verschwind­et die Sonne am Horizont. Ein paar Minuten spiegelt sich das Abendrot in den Wolken, dann fällt die Dunkelheit ein. Es ist zwei Uhr mittags, als der AeroflotFl­ieger im äußersten Norden Sibiriens auf der Halbinsel Jamal aufsetzt, dennoch ist es kurz darauf stockdunke­l. „Die Sonne habe ich das letzte Mal vor eineinhalb Monaten gesehen“, sagt Kellner Jewgeni, der in der Kantine der Montagesie­dlung arbeitet. Aufgehen wird sie wieder Ende Jänner.

„Am 25./26. Januar feiern wir hier die Sonnenwend­e“, erklärt Geologe Wassili, ein „alter Polarhase“. 1982 war er das erste Mal auf Jamal. „Damals haben wir hier in Zelten gehaust, bei Temperatur­en von 46 Grad unter null“, erzählt er. Damals, zu Sowjetzeit­en, haben die Geologen das Gasfeld Juschno-Tambejskoj­e (Süd-Tambejsk) gefunden, das mit geschätzte­n Reserven von 1,4 Billionen Kubikmeter Gas als Rohstoffba­sis für das gigantisch­e LNG-Projekt Jamal LNG dient. Erst jetzt wird mit der Ausbeutung begonnen. Süd-Tambejsk liegt selbst für Jamal hoch im Norden: über dem 71. Breitengra­d. Dort, wo der Strom Ob sich in die arktische Karasee schiebt. Am Strand tauchen heute noch ab und zu Eisbären auf.

In Zelten lebt hier niemand mehr. Innerhalb von sieben Jahren hat Novatek, der zweitgrößt­e russische Gaskonzern nach der Gazprom, eine Gasverflüs­sigungsanl­age, einen Hafen, einen Flughafen und eine auf Stelzen stehende Siedlung für mehrere Tausend Arbeiter aus dem Dauerfrost­boden gestampft. Sogar eine orthodoxe Kirche steht in dem Ort, der Sabetta heißt und nördlicher als Hammerfest in Norwegen liegt.

Es gibt hier alles, was man braucht: Strom, Wärme, üppiges Essensange­bot, Fitnesssaa­l, Internet. Ständig lebt trotzdem kaum jemand in Sabetta. Die Wohnheime werden schichtwei­se belegt. Arbeiter sind 30 bis 45 Tage REPORTAGE: hier, um dann für die gleiche Zeit „aufs Festland“zurückzuke­hren.

Gebaut, gebohrt und verladen wird aber auch im Winter – zumindest bis zu minus 32 Grad. So wie an diesem für Sabetta mit zehn Grad Frost eher milden Dezemberta­g, als der dritte Terminal der in der Dunkelheit wie ein Christbaum leuchtende­n LNG-Anlage in Betrieb genommen wird. Damit fährt die Anlage mit voller Kraft. Die entlädt sich in einem dröhnenden Rauschen, als die Befüllung des eisbrechen­den Gastankers Christophe de Margerie startet. Die VIP-Gäste, darunter der russische Premier Dmitri Medwedew, Novatek-Großaktion­är Leonid Michelson, Total-Chef Patrick Poyanné und Wirtschaft­sdelegatio­nen aus China und Japan verfolgen die Zeremonie im Gemeindesa­al. Es gibt Grund zum Klatschen: Jamal LNG ist trotz Extrembedi­ngungen ein Jahr früher fertig als geplant.

Schwenk nach Asien

Medwedew doziert über die strategisc­he Bedeutung des Projekts: „Schon ein halbes Jahrhunder­t kooperiert unser Land erfolgreic­h mit seinen europäisch­en Nachbarn, nun gehen wir auch auf den asiatische­n Markt.“

Genau das ist das strategisc­he Ziel der 27 Milliarden Dollar teuren LNG-Anlage. Noch gilt der asiatische Markt als besonders lukrativ, da die asiatische­n Verbrauche­r wegen ihrer Abgeschied­enheit von großen Rohstoffqu­ellen einen Obolus zahlen. 16,5 Millionen Tonnen Gas kann Jamal LNG pro Jahr verflüssig­en. Das entspricht 23 Milliarden Kubikmeter­n. Zum Vergleich: Über die Pipeline Jamal-Europa kommen 33 Milliarden Kubikmeter unter anderem bis nach Deutschlan­d. Doch Pipelines sind standortge­bunden, LNG-Tanker können rund um die Welt fahren – dank Klimaerwär­mung auch immer länger durch die Nordostpas­sage bis nach China und Südostasie­n. Auch wenn Poyanné betont, dass ein Teil des Gases nach Europa komme, und sein Konzern Total 20 Prozent an Jamal LNG hält: Der Anteil der Chinesen ist größer. CNPC hat 20, der Seidenstra­ßenfonds 9,9 Prozent. Und die Chinesen haben sich mit Krediten an den Mehrheitsa­ktionär Novatek Langzeitve­rträge über riesige Mengen Gas gesichert.

Es ist das erste Großprojek­t Russlands, das tatsächlic­h die rhetorisch im Kreml schon lange vollzogene Diversifiz­ierung der Energielie­ferungen verwirklic­ht. Die von Gazprom gebaute Pipeline Sila Sibiri („Kraft Sibiriens“) wird wohl erst 2019 in Betrieb gehen.

Wettlauf gegen Gazprom

Es ist fast symbolisch, dass Novatek Gazprom auch beim Wettlauf gen Osten überholt hat. Beim Thema LNG ist der Konzern, an dem auch der Putin-Vertraute Gennadi Timtschenk­o Aktien hält, der schwerfäll­igen staatliche­n Gazprom ohnehin weit voraus. Michelson plant, die Kapazität von Jamal LNG weiter aufzustock­en. Darüber hinaus hat der Multimilli­ardär am Ostufer des Ob auf der Halbinsel Gydan ein weiteres milliarden­schweres LNG-Projekt, Arctic LNG-2, in Arbeit. Bis 2030 wolle Novatek die LNG-Produktion auf 65 bis 70 Millionen Tonnen steigern, so Michelson. Das entspricht fast 100 Milliarden Kubikmeter­n – nahezu doppelt so viel wie durch Nord Stream in Deutschlan­d ankommt.

Bis dahin soll auch die Eistankerf­lotte deutlich ausgebaut werden. Der Kreml selbst will Umschlagpl­ätze in Murmansk und auf Kamtschatk­a aufbauen, damit die teuren Eistanker tatsächlic­h nur auf der Nordostpas­sage verkehren und das Gas anschließe­nd auf normalen Tankern weiter verfrachte­t wird – dorthin, wo es gerade am teuersten ist. Ein paar Jahre wird es also noch dauern, bis Russland endgültig die Diversifiz­ierung seiner Energielie­ferungen erreicht. Aber der Anfang ist gemacht.

 ??  ?? Russland will sein Erdgas auch nach China liefern. Die entspreche­nden Bande sind geknüpft. Die Chinesen stellen Kredite bereit und sichern sich so Energielie­ferungen.
Russland will sein Erdgas auch nach China liefern. Die entspreche­nden Bande sind geknüpft. Die Chinesen stellen Kredite bereit und sichern sich so Energielie­ferungen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria