AMS bewertet Arbeitslose künftig per Algorithmus
Kritik an Software, die ab 2019 Fördermaßnahmen treffsicher machen soll
– Das Arbeitsmarktservice (AMS) wird das Potenzial von Arbeitslosen ab 2019 flächendeckend von einem Computerprogramm screenen lassen. Anhand von dutzenden Merkmalen teilt ein Algorithmus Arbeitssuchende künftig in drei Kategorien ein: jene mit hohen, mittleren und niedrigen Chancen, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen.
Die bisherige Erwerbskarriere fließt in die Einteilung ebenso ein wie Alter, Staatsbürgerschaft und Ausbildung. Bewertet werden zudem die Präferenzen des Arbeitslosen, etwa in welcher Region er einen Job sucht, ob er Voll- oder Teilzeit arbeiten möchte. Der größte Teil der Informationen soll automatisch verarbeitet werden. Ziel der Neuerung ist es, Fördermaßnahmen treffsicherer zu machen. Kritiker fürchten allerdings eine Benachteiligung von Schwächeren. Die Chefin von Arbeit plus, Judith Pühringer, nimmt an, dass Menschen mit der schlechtesten Perspektive nicht mehr die meiste Förderung erhalten.
AMS-Chef Johannes Kopf betont im STANDARD- Gespräch, dass wichtige Faktoren wie etwa Motivation auch weiterhin von Beratern des AMS bewertet werden. Auch die Letztentscheidung über die „individuelle Einordnung unserer Kundinnen und Kunden“würden die Berater treffen. (red)
Die österreichische Arbeitsmarktpolitik ist in einer Umbruchphase. Dank der guten Konjunktur sind die Jahre stark steigender Arbeitslosigkeit vorbei, die Zahl der Jobsuchenden geht zurück. Zugleich kündigt sich ein politischer Wandel an. Im türkis-blauen Regierungsprogramm ist fixiert worden, dass das Arbeitslosengeld neu gestaltet werden soll. Die Notstandshilfe soll gestrichen werden und in der Mindestsicherung aufgehen.
Damit nicht genug. Auch das AMS geht ab 2019 neue Wege. Nach mehrjähriger Vorbereitung wird ab Jänner des kommenden Jahres flächendeckend ein neues EDV-Programm zum Einsatz kommen, das die Perspektiven aller Arbeitslosen in Österreich bewertet. Anhand von dutzenden Merkmalen wird ein Algorithmus die Arbeitslosen, die Kunden des AMS, in drei Kategorien einteilen: in jene mit hohen, mittleren und niedrigen Chancen, am Arbeitsmarkt unterzukommen.
Dazu werden vom Programm verschiedenste Daten verarbeitet. Viele sind persönlicher Natur: Die bisherige Erwerbskarriere der Betroffenen fließt in den Algorithmus mit ein, also wie oft und wie lange jemand arbeitslos war, welchen Beruf er erlernt hat und welcher ausgeübt wurde.
Auch das Alter, die Staatsbürgerschaft und die Ausbildung werden bewertet. Ältere Personen und nichtösterreichische Staatsbürger sind tendenziell häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, ihre Chancen stehen also de facto schlechter. Daneben werden auch weitere Faktoren analysiert. So etwa wie die Chancen in der Region sind, in der Arbeit gesucht wird, und ob jemand einen Job sucht, ob man Voll- oder Teilzeit arbeiten will. Der größte Teil der Informationen soll automatisch verarbeitet werden. Das AMS hat zum Beispiel Zugriff auf die Daten des Hauptverbandes der Sozialversicherungen. Das Projekt geht auf das Betreiben des AMS-Vorstandes unter Johannes Kopf zurück, die technische Entwicklung erfolgte durch die Wiener GmbH Synthesis Forschung.
Die erwähnten Kriterien zur Einteilung der Arbeitssuchenden spielen in der täglichen Arbeit der 4500 AMS-Berater bereits eine zentrale Rolle. Neu ist, dass eine Dreiteilung der Arbeitslosen mittels Programms erfolgt. Das System soll 2019 in die AMS-EDV eingespielt werden: Die AMS-Berater werden ab dann bei jedem der von ihnen betreuten Arbeitssuchenden sehen, wie das Computersystem die Lage einschätzt.
Personen mit hoher Arbeitsmarktchance sind jene, bei denen mit 66-prozentiger Wahrscheinlichkeit angenommen wird, dass sie es binnen sieben Monate schaffen, drei Monate Beschäftigung zu finden. Kunden mit niedrigen Chancen sind jene, bei denen das System davon ausgeht, dass die Wahrscheinlichkeit bei weniger als 25 Prozent liegt, dass die Betroffenen binnen 24 Monaten sechs Monate in Beschäftigung gebracht werden können. Alle anderen zählen zur Gruppe mit mittlerer Perspektive.
Zunächst soll die Bewertung durch den Algorithmus keine Folgen haben, sagt AMS-Vorstand Kopf. Sprich: Die Vergabe von För- dermaßnahmen wird nicht daran geknüpft werden, wer in welcher Gruppe ist, auch spezielle Zielsetzungen in Verbindung damit gibt es noch nicht. 2019 wird als Testjahr gesehen. Ab 2020 könnten die AMS-Ausgaben entsprechend der Einteilung angepasst werden.
Ziel des Unterfangens ist es laut Kopf, die Ressourcen der Arbeitsmarktpolitik langfristig effizienter einzusetzen (siehe Interview unten). Darüber, was das genau bedeutet, gehen die Meinungen auseinander. In einem AMS-Papier zu den Ursprüngen des Programmes, das dem STANDARD vorliegt, heißt es, dass der Algorithmus zu Einsparungen bei Ausgaben für Kunden mit guten Perspektiven führen soll: Sie können sich selbst helfen und brauchen primär Stellenangebote vom AMS und nur selten Förderangebote.
Fokus auf die Mitte
Bei Personen im mittleren Segment sollen künftig laut dem AMSPapier die Ressourcen konzentriert werden, weil man hier erwartet, dass jeder ausgegebene Euro, für Facharbeiterausbildungen oder Umschulungen etwa, am meisten wirkt. Und: Für diese Gruppe könnten Maßnahmen im Idealfall schneller gesetzt werden. Aktuell starten intensive Beratungsgespräche meist erst drei bis vier Monate, nachdem sich jemand arbeitslos gemeldet hat. Künftig soll durch den Algorithmus rascher feststehen, wer was braucht.
Bei Personen mit schlechter Perspektive, und genau das ist der Knackpunkt für Kritiker, soll laut Dokument ebenfalls gespart werden. Begründung: Arbeitsmarktpolitische Interventionen sind hier vergleichsweise teuer und können nur einer beschränkten Zahl von Menschen die Rückkehr auf den Jobmarkt ermöglichen.
Der damalige Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) verhinderte im Herbst 2016, dass die neue EDV flächendeckend eingespielt wird. Seine Begründung: Mit dem System würden perspektivenlose Arbeitssuchende künftig weniger gefördert. Im Frühjahr 2018 gab es grünes Licht für das Projekt im AMS-Verwaltungsrat, dem obersten Lenkungsgremium. Im türkisblauen Regierungsprogramm wird
das Projekt unter dem Begriff „Umsetzung von „kundenspezifischen Tools“angekündigt.
AMS-Vorstand Kopf sagt, dass es weder gewollt noch geplant ist, arbeitsmarktferne Personen künftig nicht oder weniger zu fördern. Das neue System ermögliche so, das gleiche Geld gezielter einzusetzen. Und er betont: Die AMSBerater können auch künftig die Einteilung von Menschen durch den Algorithmus ändern.
Judith Pühringer, Chefin von Arbeitplus, einem Netzwerk von rund 200 gemeinnützigen Unternehmen, sieht das anders. „Aus Sicht des AMS ist das nachvollziehbar, dass man in Zeiten sinkender Budget genauer schaut, welche Integrationsmöglichkeiten die Kunden haben“, so die Be- triebswirtin. „In Summe heißt das dennoch, dass mit dem bisherigen System langfristig gebrochen wird. Derzeit ist es so, dass Personen, die den höchsten Bedarf haben, die meiste Unterstützung bekommen. Jetzt rückt man von dieser Logik ab. Man konzentriert sich auf das mittlere Segment.“Und: Laut Pühringer werde das neue System vor allem für Wien zur Herausforderung. Denn in der Hauptstadt gibt es mit Abstand am meisten Personen, die in das niedrige Segment bei der Einteilung der Arbeitslosen fallen, sie spricht von über 40 Prozent.
Das AMS hat heuer ein Budget von rund 1,4 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung. Im kommenden Jahr werden es 1,25 Milliarden sein.
Die Arbeitgeber unterstützen das Vorhaben des Arbeitsmarkt- service. „Alles, was Vermittlungschancen erhöht, ist aus unserer Sicht zu begrüßen“, sagt Martin Gleitsmann von der Wirtschaftskammer, der selbst im Verwaltungsrat des AMS sitzt. Das AMS hat heuer ein Budget von 1,2 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik, „dieses Geld ist effizient einzusetzen“.
Arbeitnehmer sagen „Ja, aber“
Bei den Arbeitnehmern ist man grundsätzlich auch nicht gegen das Programm, zeigt sich aber deutlich reservierter. Gernot Mitter, der von der Arbeiterkammer in den AMS-Verwaltungsrat entsandt wurde, sagt, dass man zwei Bedingungen gestellt habe. Zunächst müssen AMS-Berater die computergenerierte Zuordnung verändern können, was erfüllt ist. „Und uns war wichtig, dass bei den arbeitsmarktpolitischen Zielen abgesichert wird, dass die Gruppe mit schlechten Perspektiven nicht nur stabilisiert wird. Diese Menschen müssen weiter Unterstützung bekommen, um auf den Arbeitsmarkt zurückehren zu können.“Das sei „positiv aufgenommen worden“von der AMS-Spitze. Mitter: „Insgesamt wäre begrüßenswerter gewesen, hätte das AMS mehr Personal bekommen“.
Dem Vernehmen nach hat die neue EDV innerhalb des AMS zu Debatten geführt, unter manchen Beratern soll die Angst umgehen, obsolet zu werden, ist zu hören. Zentralbetriebsratschef Heinz Rammel ist im Gespräch mit dem STANDARD allerdings entspannt. „Die Beratungen sind sehr intensiv und oft komplex. Das neue System könnte da tatsächlich eine Hilfe sein.“