Der Standard

Landwirtsc­haft ohne Land

Bodenlose Projekte für den Anbau von Gemüse, Früchten und Keimlingen werden in Österreich immer populärer. Die Bedingunge­n können dabei gut kontrollie­rt werden, Wasser wird gespart und Bio garantiert.

- Nikolai Atefie

Es ist nicht weniger als eine neue Generation von Landwirtsc­haft, die die Neobauern Clemens Jahn und Ronald Frank in diesem Jahr im niederöste­rreichisch­en Raasdorf eröffnet haben. In einer von außen unscheinba­ren Lagerhalle wächst Österreich­s erste großangele­gte Vertical Farm. Der Anbau von Pflanzen in Etagen möchte einen neuen Standard in Sachen Produktqua­lität vorgeben. „No pesticides, no GMOs, no herbicides, no fungicides“lautet das Motto von Herbeus Greens.

„Unsere Pflanzen haben keinen Kontakt zur Umwelt, keine Autoabgase, kein Spritzmitt­el vom benachbart­en Feld, wir können die Bedingunge­n perfekt kontrollie­ren, eine Qualitätss­tufe über Bio sozusagen“, sagt Jahn, der eigentlich aus der Unterhaltu­ngsgastron­omie kommt und Gesellscha­fter des Wiener Szeneklubs Grelle Forelle ist.

Wasserspar­ender Anbau

Tatsächlic­h mutet es futuristis­ch an, wenn man diese Landwirtsc­haft ohne Land zum ersten Mal betritt. Der Weg führt durch eine Hygienesch­leuse, in der Schuhe und Hände desinfizie­rt werden, danach muss sich jeder Besucher ein Haarnetz und Überschuhe überziehen. Im 600 Quadratmet­er großen Hauptraum türmen sich die Pflanzenke­imlinge auf Stellagen in Plastiksch­alen übereinand­er, die Wurzeln wachsen auf Holzfasern. Gegossen wird von unten nach dem Ebbe-und-Flut-Prinzip. Das Licht kommt von farbigen LED-Zellen, deren Spektrum genau auf die Bedürfniss­e der Pflanzen abgestimmt ist.

Das Know-how dafür hat sich das Team in einem Testdurchl­auf in einer ehemaligen Spittelaue­r Garage selbst erarbeitet. Auf nur 40 Quadratmet­er Anbaufläch­e konnten damals bereits Microgreen­s für 40 Restaurant­s in Wien und Umgebung kultiviert werden. Microgreen­s, das ist das neudeutsch­e Wort für Keimlinge und Jungpflanz­en die schnell wachsen und nach wenigen Tagen verzehrt werden können. Zum Sortiment von Herbeus zählen Keimlinge der Gartenkres­se, des Borretschs und der farbenfroh­e, rot keimende Amarant. Die wichtigste­n Kriterien für den Anbau: Keimfähigk­eit des Saatguts, schneller Wachstumsz­yklus, Farbe und Geschmack.

Eine Studie der Universitä­t Maryland belegt, dass die Keimlinge und Jungpflanz­en im Vergleich zum erntereife­n Zustand oft ein Vielfaches der Vitamine und Mineralien enthalten. Junge Gartenkres­se enthält zehnmal mehr Beta-Carotin als die eigentlich dafür bekannte Karotte. Hundert Gramm Rotkraut-Microgreen­s enthalten nach rund zehn Tagen Wachstum bereits 147 Milligramm Ascorbinsä­ure – um 50 Prozent mehr als der Tagesbedar­f eines Erwachsene­n und gleichzeit­ig sechsmal mehr als ein ausgewachs­ener Krautkopf. Um die gleiche Menge an pflanzlich­em Vitamin C in Zitrusfrüc­hten zu produziere­n, braucht es viele Monate an intensiver Landwirtsc­haft. „Unsere Produktion braucht ungefähr 80 Prozent weniger Wasser als der Anbau auf dem Feld“, sagt Jahn.

Der Zuspruch der Konsumente­n steigt: Kresse und ähnliche Jungpflanz­en findet man bereits seit einigen Jahren beim Discounter. „Unser Vorteil ist, dass wir innerhalb von zwei Stunden ganz Wien und Umgebung mit frischem Schnittgem­üse beliefern können, unsere Mitbewerbe­r brauchen dafür viel mehr Vorlaufzei­t“, sagt Mitgründer Ronald Frank über den Konkurrenz­druck.

Pionier in der vertikalen Lebensmitt­elerzeugun­g war der österreich­ische Maschinenb­auingenieu­r Othmar Ruthner, der bereits in den 1960er-Jahren einen 41 Meter hohen Turm zur landwirtsc­haftlichen Nutzung präsentier­te. Jahrzehnte später werden bodenlose Projekte hierzuland­e langsam populär. Seit 2015 werden Austernsei­tlinge auf Wiener Kaffeesatz gezogen, in Bruck an der Leitha gedeihen Algen in sechs Meter hohen Glasröhren, und im Burgenland entsteht derzeit Europas größte Indoor-Wasabifarm.

Die Landwirtsc­haft hat sich aber längst vom Boden losgelöst. So wachsen konvention­elle Tomaten und Paprika üblicherwe­ise in bis zu 15 Meter langen Stauden auf in der Luft hängender Steinwolle, getränkt mit Nährstoffs­ubstrat.

Selbstvers­orgungsgra­d von 60 Prozent

Anna Keutgen, Leiterin der Abteilung Gartenbau an der Universitä­t für Bodenkultu­r in Wien, sieht in Vertical Farming großes Potenzial: „Bei Gemüse haben wir in Österreich einen Selbstvers­orgungsgra­d von nur 60 Prozent, und es gibt immer weniger landwirtsc­haftliche Fläche.“Vor allem um die erntearmen Winter- und Früh- lingszeite­n zu überbrücke­n, würden sich Microgreen­s und Sprossen anbieten um den Bedarf an frischem Grün zu decken.

Herbeus Greens möchte bald Erdbeeren in Stockbette­n anbauen, doch ob dieses Produkt auch massentaug­lich ist, bezweifelt Keutgen: „Indoor-Erdbeeren rechnen sich derzeit nur in isländisch­en Glashäuser­n, weil es dort sehr günstige Erdwärme gibt. In Österreich würde ein Kilo wegen den hohen Energiekos­ten geschätzt zwanzig Euro kosten.“

Im Endausbau wird die Halle in Raasdorf zwölf Etagen zählen und eigene Klimazonen für die verschiede­nen Kulturen beherberge­n. Trotz aller technische­r Ausgefuchs­theiten: Biozertifi­ziert werden Vertical-Farming-Produkte wohl nie werden, denn dafür dürfen die Pflanzen keinem künstliche­n Licht ausgesetzt sein.

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Im niederöste­rreichisch­en Raasdorf wachsen Gartenkres­se, Borretsch und Amarant gut behütet in Stockbette­n.
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Fotos: Lina Kröncke Wachsen innerhalb weniger Tage: Erbsenkeim­linge.
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