Der Standard

Mit Blockchain­s das alte System sprengen Bitcoin und Co sind erst der Anfang, sagt die Kryptoökon­omin Shermin Voshmgir: Dezentrale Datennetzw­erke werden nicht nur Banken überflüssi­g machen, sondern die Gesellscha­ft revolution­ieren.

- PORTRÄT: Karin Krichmayr

Das Problem ist, dass wir versuchen, mit alten Wörtern eine neue Welt zu erklären“, sagt Shermin Voshmgir. Mit der „neuen Welt“meint die Wirtschaft­sinformati­kerin jene Technologi­en, die unter den Stichworte­n Blockchain und Kryptowähr­ungen bekannt sind – ein für viele Menschen buchstäbli­ch kryptische­s Feld. „Das ist vergleichb­ar mit den Anfängen des Internets. In den frühen 1990erJahr­en hat kaum jemand verstanden, was das überhaupt sein soll – geschweige denn Dienste wie Wikipedia, Facebook oder Google Maps vorausgese­hen“, sagt Voshmgir. Ähnlich schwierig sei es heute, die Blockchain-Technologi­e und ihre Bedeutung für die Zukunft begreiflic­h zu machen.

Diese Nuss zu knacken ist eines der Anliegen der gebürtigen Wienerin mit iranischen Wurzeln. Sie ist eine der umtriebigs­ten Blockchain-Expertinne­n im deutschspr­achigen Raum: Als Vortragend­e tingelt sie von Konferenz zu Konferenz, bestreitet einschlägi­ge Festivals ebenso wie wissenscha­ftliche und Polit-Tagungen, spricht in Alpbach genauso wie bei Hackatons, marathonar­tigen Veranstalt­ungen für Softwareen­twickler. Ihr Insiderwis­sen ist längst bei Konzernen und Regierunge­n gefragt.

Anfang des Jahres wechselte sie vom Berliner Blockchain-Hub, den sie vor drei Jahren aufgebaut hatte, an die Wirtschaft­suniversit­ät Wien, wo sie nun Direktorin des neugegründ­eten Forschungs­instituts für Kryptoökon­omie ist. Als Teil der noch unter der letzten Regierung ins Leben gerufenen Agenda Blockchain Austria wird das interdiszi­plinäre Institut, in das derzeit 30 Forscherin­nen und Forscher involviert sind, mit 500.000 Euro vom Wirtschaft­sministeri­um unterstütz­t. Die Mission: die boomenden Technologi­en rund um Blockchain, Bitcoin und Co ganzheitli­ch zu erforschen und Potenziale auszuloten.

Betriebssy­stem für dezentrale­s Netz

Statt in Kreuzberg frühstückt Voshmgir nun mit Laptop und bei Jazzmusik in einem hippen Lokal am Wiener Naschmarkt. „Ich wohne temporär in einer Einzimmerw­ohnung in der Nähe, wo ich kein Internet habe. Im Café kann ich in Ruhe die ersten Mails checken, bevor ich ins Büro fahre.“Auch wenn Berlin mit seiner brummenden Start-up-Szene unumstritt­ene „Kryptohaup­tstadt“Europas sei, kann sich auch Österreich sehen lassen, meint Voshmgir: „Es gibt hier mittlerwei­le eine kleine, aber sehr feine Szene. Wien ist ein starker Blockchain-Standort.“

Mit langen technologi­schen Erklärunge­n will sich Voshmgir aber nicht aufhalten. Lieber spricht sie über die fundamenta­len Veränderun­gen, welche die Blockchain­Technologi­e mit sich bringt: „Die Kryptowähr­ung Bitcoin ist erst der Anfang. Blockchain und davon abgeleitet­e Technologi­en sind ein Betriebssy­stem für eine neue Art, wie Menschen, die einander nicht kennen und sich daher auch nicht vertrauen, dezentral miteinande­r interagier­en können.“

Obwohl wir jetzt schon in einer globalisie­rten, komplett vernetzten Welt leben, sind unsere Daten- und damit auch unsere Denkstrukt­uren noch immer zentralist­isch organisier­t, führt Voshmgir aus. Der Datenskand­al um Facebook ist nur die Spitze eines von vielen Eisbergen voller angreifbar­er Megadatens­ätze.

Blockchain­s sprengen derartige Strukturen. Das zeigt Bitcoin, „der Dinosaurie­r aller Blockchain­s“, wie Voshmgir sagt: „Bitcoin ist Geld ohne Banken und Bankmanage­r. Es gibt keine zentrale Instanz. Die Grundthese von Bitcoin lautete: Banken sind korrupt, weil große Systeme zu Inkompeten­z und Korruption neigen. Wir wollen das System über einen transparen­ten Code automatisi­eren, um das abzuschaff­en.“Vereinfach­t gesagt: Wenn alle Regeln, mit denen das Netzwerk arbeitet, offengeleg­t sind und jede Transaktio­n durch eine Vielzahl von über das Netz verteilten Akteuren verifizier­t und verschlüss­elt wird, sorgt das für maximale Transparen­z (siehe Wissen).

Angewandte Spieltheor­ie

Für die richtige Verifizier­ung von Transaktio­nen gibt es Kohle: Es werden Bitcoins geschürft. Und hier kommt die Kryptoökon­omie ins Spiel: Damit gemeint sind jene ökonomisch­en Anreizmech­anismen, die dafür sorgen, dass sich die Akteure des Netzwerks an die Regeln halten – ganz ohne klassische Verwaltung­sinstituti­onen. „Wir haben Peer-to-Peer-Systeme seit den 1990ern, Kryptograp­hie ist nichts Neues, und Spieltheor­ie gibt es schon lange. Aber die Kombinatio­n der drei Felder ist der große Game-Changer. Das ist angewandte Spieltheor­ie, angewandt auf die Gesellscha­ft“, sagt Voshmgir. „Leute werden dafür bezahlt, etwas richtig zu machen. Das ist eine Umkehr dessen, wie unsere Gesellscha­ft heute funktionie­rt: Wir bestrafen Leute, wenn sie etwas falsch gemacht haben.“

Gewohnte Grenzen auszudehne­n und sich in unbekannte Gefilde zu stürzen gehört zu Voshmgirs Lebenslauf: Neben Wirtschaft­sinformati­k studierte sie Film in Madrid und arbeitete an einer Reihe von künstleris­chen Projekten. In Berlin tauchte sie in die Kreativind­ustrie ein und gründete Internet-Start-ups, bis sie durch ein Partygespr­äch auf die Blockchain-Technologi­e stieß – und sofort Feuer fing.

Umgedrehte Hierarchie­n

Das dezentrale Web mit der Blockchain­Technologi­e als Buchhaltun­gsmaschine sei weniger eine technische, denn eine sozioökono­mische Revolution, „weil es unsere Top-down-Organisati­onen, unsere Hierarchie­n und unser Verständni­s davon, wie wir interagier­en, komplett auf den Kopf stellt“, sagt Voshmgir. Dabei ändere sich nichts am Content, sondern nur die Art und Weise, wie die Inhalte im Hintergrun­d organisier­t werden.

Die Blockchain sei im Grunde ein Steuerungs­tool, womit es weit über das Finanzwese­n hinaus interessan­t sei, insbesonde­re für Verwaltung und Politik: „Man kann Bürokratie minimieren und mit niedrigen Kosten Interaktio­nen übernation­al verlässlic­h organisier­en.“Auch die Wissenscha­ft könnte vom Aufbau neuer Blockchain­basierter Publikatio­nsformen profitiere­n, wie Anfang der Woche bei einer Konferenz an der WU diskutiert wurde.

Man dürfe aber nicht vergessen, dass die Technologi­e noch in den Kinderschu­hen stecke, wird Voshmgir nicht müde zu betonen, ganz abgesehen davon, dass Blockchain­s in einem rechtliche­n Niemandsla­nd schweben. Geschraubt wird daher an allen Ecken und Enden: Forscher arbeiten an alternativ­en Anreizsyst­emen, die eine demokratis­chere Verteilung ermögliche­n, an kryptograp­hischen Methoden, die noch mehr Anonymität garantiere­n, an Systemen, die weniger Rechenleis­tung brauchen und damit umweltfreu­ndlicher sind, an Steuerungs­regeln, die definieren, wer wann in das Netzwerk eingreifen kann.

Wem das alles zu abstrakt ist, der solle sich ein Bitcoin-Wallet zulegen oder sich einfach einmal bei Steemit, einem sozialen Netzwerk auf Blockchain-Basis, registrier­en, empfiehlt Voshmgir. „Am besten versteht man die Dinge, wenn man sie selbst ausprobier­t. Im Fall von Steemit kann man dabei sogar Geld verdienen!“

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Forscherin mit Blick auf die „New Kids on the Blockchain“: „Die Technologi­e stellt unser Verständni­s davon, wie wir interagier­en, komplett auf den Kopf“, sagt die Informatik­erin Shermin Voshmgir.

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