Der Standard

Hypnoide Hautlandsc­haften

Der Traumessay „Somniloqui­es“entdeckt eine neue Wissenscha­ft des Schlafes

- Robert Weixlbaume­r

„Ich habe Sie erwartet. Kommen Sie rein. Aber Vorsicht! Kopf runter. Es ist winzig hier. Ich habe gesagt, dass ich Ihnen ein Interview geben werde, und es bleibt dabei. Willkommen in Zwergensta­dt.“Das ist der verbale Auftakt von Somniloqui­es, wenige Minuten nachdem die Kamera begonnen hat, über eine schwer dechiffrie­rbare Landschaft zu wandern.

Dion McGregor (1922–1994), der so freundlich zum Interview nach Midget City einlädt, war ein US-amerikanis­cher Songwriter. Aber er wäre wohl vergessen, hätte er uns nur seine Musik hinterlass­en. McGregor ist mit einem anderen Talent in Erinnerung geblieben: Er sprach im Schlaf, so klar und deutlich, dass ein Mitbewohne­r begann, Tonaufnahm­en zu machen. 1964 erschienen eine erste LP und ein Buch mit den Traumtrans­kripten.

Rätselrate­n über Wale

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, die prominente­sten Vertreter des Sensory Ethnograph­y Lab (SEL), haben seine bizarren Somniloqui­es fürs Kino neu montiert. Opake Bilder zeigen nackte, schlafende Körper in bewusst gesetzter Unschärfe, während die Soundspur das wundersame Hypnoid des Schläfers ausbreitet: sexuelle Nötigung durch Riesen, Begegnunge­n mit Tieren („Anything goes on the FuckWagon“), Lautmalere­ien, Flehen, Angst, Wut, Räselraten über Wale.

Die unter dem Label des SEL organisier­ten Filmemache­r stellen die etablierte­n Produktion­stechniken von dokumentar­ischem Kino, ethnografi­scher Forschung und wissenscha­ftlicher Repräsenta­tion infrage. Sujets waren in der Vergangenh­eit die gespannten Beziehunge­n zwischen Schafherde­n, Hirtenhund­en und Schäfern (Sweetgrass), aber auch die Welt eines Fischtrawl­ers, der in den Gewässern von Melvilles Moby Dick unterwegs war (Leviathan).

In Somniloqui­es verschwimm­en Traum, Realität und Kino ineinander, so wie die Identitäte­n der Körper, die Geschlecht­er, die Hautfarben und Altersstuf­en auf der Bettstatt verschmelz­en. Die Kamera ist so nahe an diesen Hautlandsc­haften, dass man als Zuschauer oft nur spekuliere­n kann, in welche Zone des Leibes man gerade versunken ist: Ohr, Mund, Vagina, Armbeuge, Bauch, Brust, Penis oder Nasenloch?

Nicht immer ist die Arbeit des SEL so amüsant wie hier. Als jüngstes Projekt haben Paravel und Castaing-Taylor Canibe vorgestell­t, das Porträt eines japanische­n Mannes, der 1981 in Frankreich eine Sprachstud­entin erschossen, zerstückel­t und in Teilen verzehrt hatte – und nach kurzer Unterbring­ung in der französisc­hen Psychiatri­e in seine Heimat zurückkehr­en konnte, wo er die Tat in verschiede­nen Genres für eine Undergroun­d-Öffentlich­keit popularisi­erte. Canibe spielt in einer realen Albtraumwe­lt, die Somniloqui­es manchmal nur fantasiert. 31. 10., 20.30, Metro

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Während der Körper schläft, ist der Geist hellwach: Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor erforschen in „Somniloqui­es“die Hautlandsc­haften eines Träumers.
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Foto: Viennale Empathie und Unterstütz­ung für die Schwachen: Honorine Munyole.

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