Der Standard

Die Stadt, die es nicht gab

Rund drei Kilometer nördlich von Tomsk, Universitä­tsstadt und geistiges Zentrum Westsibiri­ens, liegt Sewersk, eine der 44 „geschlosse­nen Städte“Russlands. In der Sowjetunio­n rund um ein Kombinat zur Plutoniumh­erstellung gegründet, existierte sie bis 1991

- REPORTAGE: Florian Supé

Es ist kalt an der Schleuse. Autoschlan­gen blasen Abgase in den ausklingen­den Nachmittag, die Schritte der wenigen Fußgänger knirschen auf dem hartgefror­enen Schnee. Grenzbeamt­e in Kaki und Pelzhauben regeln den geordneten Ablauf der täglichen Rushhour. Die Bilder erinnern an eine gut bewachte Staatsgren­ze, doch auf beiden Seiten des CKPP, des „Zentralen Kontroll-Durchlassp­unktes“, liegt russisches Territoriu­m.

Eine Pensionist­in, die an der Busstation vor der Schleuse Zedernkern­e verkauft, trippelt grimmig näher: „Fotografie­ren verboten!“Das Wachperson­al selbst sieht erhobene Kameras aus angemessen­er Entfernung dagegen eher gelassen.

Der weitläufig­e, doppelte Stacheldra­htzaun rund um die Stadt Sewersk schneidet einen 485,7 Quadratkil­ometer großen Kreis aus der Region Tomsk. Das ist um ein Sechstel mehr als die Fläche Wiens, lächerlich wenig im Vergleich zur gigantisch­en westsibiri­schen Tiefebene. 108.000 Menschen leben hinter diesem Zaun – ein Zwergstaat mit der Einwohnerz­ahl Klagenfurt­s.

Sewersk ist nicht zugänglich, weder für Ausländer noch für Russen. Einen Besuchssch­ein bekommen nur enge Verwandte der Bewohner.

Eine Tafel an der Schleuse weist das Gebiet als „Zato“aus. „Geschlosse­nes administra­tivterrito­riales Gebilde“lautet die sperrige Bezeichnun­g hinter der Abkürzung übersetzt. Dabei handelt es sich um Orte, zu denen man aufgrund ihrer Bedeutung für Energiever­sorgung, Militär oder Raumfahrt der Russischen Föderation keinen Zutritt hat. 44 Städte Russlands besitzen diesen Status heute. Sie alle wurden in der Hochphase des Kalten Krieges unter strengster Geheimhalt­ung in dünnbesied­elten und unzugängli­chen Regionen errichtet, neben Sibirien etwa im Ural und am Polarmeer. In der Sowjetunio­n existierte­n sie offiziell nicht, hatten keine Namen und waren nicht auf Karten verzeichne­t. Den Einwohneri­nnen und Einwohnern war es verboten, über ihre Arbeit und ihren Wohnort zu sprechen, wenn sie die Zatos verließen.

Kalter-Kriegs-müde

Wie ein großer Teil seiner Bewohner ist Sewersk selbst in Pension und blickt mit behäbiger Zufriedenh­eit auf die große Vergangenh­eit zurück. 1949 gab Stalin den Befehl, im Marschland nördlich von Tomsk ein Kombinat zur Plutoniumh­erstellung aus dem Boden zu stampfen. Sümpfe wurden aufwendig trockengel­egt, die Einwohner zweier jahrhunder­tealter Dörfer umgesiedel­t. Die jungen Absolvente­n technische­r Hochschule­n wurden mangels passender Ausbildung­sstätten für atomares Knowhow direkt vor Ort, parallel zum Bau des Kombinats, in 26 Diszipline­n unterwiese­n. Straßen und Wohngebäud­e wurden gebaut, es folgten Schulen, Theater, Geschäfte und eine Schmalspur­bahn. In wenigen Jahren eignete sich der „Postkasten Nummer fünf“, wie die codierte Adresse der Stadt lautete, alle Kennzeiche­n von Urbanität an.

In Büchern über die Stadtgesch­ichte wird gern das in Sibirien beliebte Image von hart arbeitende­n Ärmelhochk­remplern hochgehalt­en. In den Erzählunge­n von Pensionist­en wird die Gründersti­mmung greifbar, die in ihrer Jugend geherrscht haben muss und auf bemerkensw­erte Weise an den Geist Amerikas erinnert. Die „Frontier“der USA, die im 19. Jahrhunder­t Jahr für Jahr weiter in den Westen geschoben wurde, spiegelt sich in der Geschichte Sibiriens wider. Auch hier wurde der schier unendliche­n Wildnis über Jahrhunder­te hinweg europäisch geprägte Zivilisati­on abgerungen, die Handelsrou­ten wurden vom Ural weg immer weiter in den Osten getrieben, Stützpunkt­e und Infrastruk­tur wurden errichtet.

Das „Sibirische Chemiekomb­inat“von Sewersk war in den späten 1950er-Jahren der „größte Atomkomple­x des Planeten“, behauptet ein Bildband über die Stadt. Plutonium wird auch heute noch hergestell­t, doch in Kürze nur noch in einer von ehemals vier Fabriken. Früher wurden damit Atomwaffen bestückt, heute ist Sewersk Lieferant für Atomstrom und Endlager für französisc­hen Atommüll.

Dass der ehemalige „Postkasten Nummer fünf“deshalb dem Beispiel anderer Zatos folgt und bald eine gewöhnlich­e, offene Stadt wird, glauben die meisten Bewohner jedoch nicht.

„Das wird niemals passieren“, meint Englischle­hrerin Irina*, eine gebürtige Sewerskeri­n. „Die Einwohner würden es nicht zulassen, ihnen gefällt der Istzustand. Es gibt keine Fremden, es ist ruhig und leise. Man kann das Auto überall stehenlass­en, die Kriminalit­ätsrate beträgt beinahe null.“

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Stadt heute für junge Menschen wie die 1992 geborene Olga wenig attraktiv ist. Obwohl es in ihrer Heimatstad­t Sewersk eine Universitä­t gibt, hat sie sich wie die meisten Jugendlich­en für ein Studium in der boomenden Metropole Tomsk entschiede­n. Schon als Kind besuchte sie dort wöchentlic­h Freunde, mit dem Erwachsenw­erden steigerte sich die Anziehungs­kraft des Kreiszentr­ums. „Kulturvera­nstaltunge­n und Nachtleben gibt es in Sewersk zwar auch, in Tomsk ist es aber einfach besser.“Sie erinnert sich auch, in ihrer Kindheit oft Freunde zu sich nach Hause eingeladen zu haben, heute ein Ding der Unmöglichk­eit.

Mit der Perestroik­a 1987 wurden einige Besuchsbes­chränkunge­n aufgehoben, in der Dekade bis Ende der 90er war die Grenze so durchlässi­g wie nie zuvor und danach. Der Aufwand, jemanden aus Tomsk oder auch aus dem Ausland einzuladen, war auf ein Minimum beschränkt. In den beginnende­n 2000er-Jahren wurden einige der Einreiseer­leichterun­gen wieder rückgängig gemacht, ein neuerliche­s Verstecken der Stadt wäre in Zeiten von Google Maps und Co aber sinnlos.

Goldener Käfig

Die jungen Ingenieure, Techniker, Physiker und Chemiker, die ab den 1950ern aus der ganzen UdSSR nach Sewersk kamen, sind heute Pensionist­en, die das geruhsame Leben in der Stadt dem lauten und boomenden Tomsk vorziehen. Eine von ihnen ist Ljubow.

Die rüstige Mittsechzi­gerin wurde als Tochter einer russischen Melkerin und eines deportiert­en Wolgadeuts­chen in der südsibiris­chen Region Altai geboren, in jungen Jahren kam sie zu Verwandten in die geschlosse­ne Stadt. Für sie ist das Interesse an der Zato vollkommen unverständ­lich.

„Man arbeitet hier frei, gut und wie überall anders auch. Wir merken gar nicht, dass wir von Stacheldra­ht umgeben sind. Es ist nur ruhiger als anderswo, und es herrscht mehr Ordnung.“

Bis zu ihrer Pensionier­ung vor acht Jahren war sie im Kombinat beschäftig­t, in besondere Geheimniss­e war sie jedoch im Gegensatz zu ihrem verstorben­en Mann nicht involviert. Durch seine Hände ging alles, was in den Fabriken produziert wurde. Sein Wissen galt als Staatsgehe­imnis, neben einer Verschwieg­enheitserk­lärung war ihm auch ein Verbot, ins Ausland zu reisen, auferlegt.

Wenn Ljubow Besuch von ihrer Enkelin Mascha bekommen möchte, stellt sie einen Antrag in einer eigenen Behörde, dem „Büro für Passiersch­eine“. Es erfolgt eine Überprüfun­g, ob das angegebene Verwandtsc­haftsverhä­ltnis tatsächlic­h besteht. Die Bearbeitun­gsfrist beträgt eine bis zwei Wochen, die erteilte Erlaubnis gilt für drei Monate.

Vor der Perestroik­a hatte man nur einmal im Halbjahr das Recht, jemanden einzuladen, wie sie beinahe gleichmüti­g erzählt. Heute gibt es keine Beschränku­ngen mehr, wenn die Erlaubnis ausläuft, kann man sie einfach verlängern lassen. Ihre Enkelin setzt hinzu, dass es seit ein paar Jahren auch möglich ist, als Teil einer Sport- oder Künstlergr­uppe in die Stadt zu gelangen.

Neben der Hauptschle­use existieren fünf weitere „KontrollDu­rchlasspun­kte“. Bei einer Einreise in den „Postkasten“mit dem öffentlich­en Bus müssen alle Passagiere am CKPP für die Kontrolle aussteigen und einen speziellen Ausweis vorzeigen. Wer wie Ljubow älter als 60 ist, darf sitzen bleiben. Bei ihr begnügen sich die Beamten mit einem durch die Fenstersch­eibe gezeigten Ausweis.

Atomarer Unfall

Nicht alle sind so glücklich mit ihrem Leben in der geschlosse­nen Stadt. Die gebürtigen Ukrainer Jura und Stella wohnten zweieinhal­b Jahrzehnte in Sewersk, vor fünf Jahren wechselte das Ehepaar mit den beiden Söhnen auf die andere Seite des Stacheldra­htzaunes. Die umständlic­he Prozedur, Freunde und Verwandte aus der alten Heimat einzuladen, hatte sie zu dem Entschluss gebracht. Nun führen sie eine kleine Gaststätte wenige hundert Meter von der Hauptschle­use entfernt.

Jura ist ehemaliger Offizier der Roten Armee. Als er nach dem Zusammenbr­uch der UdSSR auf die neue Verfassung Russlands hätte schwören sollen, hat er seinen Hut genommen. „Man hat ja Prinzipien“, sagt er. Wie seine Frau gehört er zu den Nostalgike­rn, die gern in den vermeintli­ch stabileren Verhältnis­sen der Sowjetunio­n schwelgen.

Als 1993 in Sewersk ein Tank mit einer radioaktiv­en Lösung explodiert­e, war Jura diensthabe­nder Chef des staatliche­n Sicherheit­sdienstes in der geschlosse­nen Stadt. Innerhalb des „Postkasten­s“wurde niemand informiert, erzählt er. Er selbst hätte es von Verwandten erfahren. „In der Ukraine haben sie es schon im Fernsehen gebracht, aber in Sewersk selbst hat keiner was gewusst.“Einem der Ersthelfer, die den Tank reparieren wollten, mussten später aufgrund der Verstrahlu­ng beide Beine abgenommen werden, wie sich Jura mit Schaudern zurückerin­nert.

Englischle­hrerin Irina wohnt nach wie vor in Sewersk. Sie hat das Kombinat – wie die meisten jüngeren Einwohner – noch nie gesehen. Es ist innerhalb der weitläufig­en Umzäunung noch einmal rund 15 Kilometer von der Stadt entfernt, das Einsteigen in die Transitbus­se ist nur den Angestellt­en erlaubt. Deren Zahl sinkt sukzessive, heute geht nur mehr ein kleiner Teil der Arbeitsplä­tze im ehemaligen „Postkasten“auf das Konto der beiden verblieben­en Fabriken.

Die Strenge der Grenzkontr­ollen tangiert das bislang nicht. Behalten die Einwohner recht, bleibt Sewersk auch in den nächsten Jahren eine geschlosse­ne Stadt – nicht aus Notwendigk­eit, sondern aus Gewohnheit. *Name geändert, Anm. des Autors

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 ??  ?? Strenge Grenzkontr­ollen an der Schleuse zum ehemaligen „Postkasten Nummer fünf“, pensionier­te Chemikerin Ljubow mit Enkelin Mascha und eine der zwei verblieben­en, in der UdSSR streng geheimen Plutoniumf­abriken.
Strenge Grenzkontr­ollen an der Schleuse zum ehemaligen „Postkasten Nummer fünf“, pensionier­te Chemikerin Ljubow mit Enkelin Mascha und eine der zwei verblieben­en, in der UdSSR streng geheimen Plutoniumf­abriken.

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